Ihr Lieben, die Tochter unserer Leserin galt erst als schüchtern, ihre Diagnose lautet aber: soziale Angststörung im Kindsalter. Was das für sie selbst, für ihre Schulzeit und für ihr Umfeld bedeutet, erzählt uns die Mama heute im Interview.
Du Liebe, deine fast 11jährige Tochter hat eine diagnostizierte „soziale Angststörung im Kindsalter“. Wie äußert sich diese?
Unsere Tochter ist allgemein sehr ängstlich und zurückhaltend, neue Situationen und vor allem Personen sind schwierig für sie. Ihre Angst wird dann zu groß und sie blockiert. Aktuell kommt sie gerade anscheinend in die Pubertät und ist häufig komplett überwältigt von ihren Gefühlen. Sie weint schnell, wird bockig und auch häufiger richtig wütend. Hört sich erstmal an wie ein normaler Teenie, ist aber nicht so vergleichbar.
Wann und wie habt ihr gemerkt, dass sich eure Tochter verändert oder war sie schon immer ängstlicher?
Das begann schon im Kindergartenalter. Sie war sehr anhänglich, weinte fast jeden Morgen, wenn ich ging. Sie musste immer erst mit ihren Erzieherinnen kuscheln und „ankommen“. Sie ging nie von selbst auf andere Kinder zu, war aber sehr empathisch und lieb, kümmerte sich immer um andere Kinder, wenn diese z.B. weinten oder traurig waren.
Arztbesuche waren katastrophal, sie hat immer geweint. Auch beim Zahnarzt und Kieferorthopäden musste ich mit auf den Stuhl, jeder Schritt musste erklärt werden. Ich musste jedem Arzt erklären, was los ist, weil sie das Verhalten oft nicht verstanden. Egal wo wir hin mussten, sie „kroch“ regelrecht in mich oder ihren Papa hinein. Sie konnte teilweise sogar mit Verwandten nicht sprechen, weil sie so Angst davor hatte.
Alles was neu war, wurde ein Problem. Je älter sie wurde, desto größer wurde die Angst. Fahrrad fahren, Inliner fahren oder Eislaufen, es hat unzählige Übungsstunden gebraucht, bis sie den Mut fand und es klappte. Wir haben mehrere Jahre benötigt, bis wir einen Schwimmlehrer fanden, der ganz toll mit ihr umgehen konnte und ihr dann das Schwimmen beigebracht hat.
War das ein steiniger Weg für euch bis hin zur Diagnose?
Tatsächlich eigentlich nicht. Im November 2018 hatten wir unser jährliches Kita-Gespräch und bei dem kristallisierte sich heraus, dass unsere Tochter Probleme bekommen könnte, wenn sie in die Schule kommt. Im Dezember 2018 habe ich ein Beratungsgespräch bei einer Psychologischen Praxis vereinbart. Wir sind als Familie dorthin gegangen und unsere Tochter zeigte auch dort ihr typisches Verhalten. Sie klammerte sich an mich und ihren Papa und konnte kaum ein Wort sagen.
Die Therapeutin wusste eigentlich sofort Bescheid und wir konnten schon ein paar Wochen später mit der (Kurzzeit)Therapie beginnen. Diese ging dann ca. ein Jahr lang und endete quasi genau mit Coronabeginn. Im 4. Schuljahr bat die Klassenlehrerin uns, mit unserer Tochter noch einmal eine Therapie zu starten, da sie befürchtete, dass die Umstellung zur weiterführenden Schule ein Problem werden könnte.
Daraufhin haben wir erneut die damalige Praxis kontaktiert, hatten Glück und konnten kurze Zeit später wiedermit der Therapie beginnen. Seit Dezember 2022 geht sie nun einmal pro Woche dorthin und blüht seitdem wirklich auf!
Wie war das für dich als Mutter, die Diagnose für deine Tochter zu bekommen? War das auch eine gewisse Form der Erleichterung, weil ihr dadurch jetzt endlich geholfen werden kann?
Ich war schon sehr erleichtert. Es ergab plötzlich einen Sinn, warum sie sich so benahm. Es wurde ja, je älter sie wurde, immer schlimmer und wir waren froh, als die Therapie begann. Auch wir Eltern bekommen durch die Therapie immer wieder Tipps, wie wir in bestimmten Situationen besser mit unserer Tochter umgehen können. Das hilft im Alltag enorm.
Ich kann auch immer mit der Therapeutin sprechen, gebe ihr Feedback, was aktuell passiert, ob es Fortschritte sind, wie z.B. als sie kürzlich ganz spontan mit Freundinnen alleine zum Eislaufen gefahren ist oder auch wenn etwas nicht so gut klappt, wie z.B., wenn sie einen Wutanfall bekommt und ihre Gefühle nicht händeln kann.
Kennt ihr die Ursprünge der Angststörung, ist so etwas rauszubekommen?
Ich hatte in der Schwangerschaft einen sehr traumatischen Todesfall in der engsten Familie. Auch gesundheitlich ging es mir über Monate nicht gut. Die Therapeuten sagten, es könnte sein, dass meine Tochter zu viele „Stresshormone“ abbekommen haben könnte. Aber mit Sicherheit weiß man es nicht. Auf der anderen Seite gibt es in meinem Familienzweig mehrere Personen, die ebenfalls mit Ängsten und Unsicherheiten zu kämpfen hatten, auch im Kindsalter.
Eure Tochter geht nun einmal pro Woche zur Therapie, sprecht ihr im Freundeskreis offen darüber?
Im engsten Freundeskreis wissen alle Bescheid und das ist auch für alle okay. Es hat noch nie jemand etwas Negatives gesagt.
Haben sich die Freundschaften eurer Tochter durch die Angststörung verändert?
Ja ein wenig, sie hat keinen riesengroßen Freundeskreis, aber dafür einen sehr tollen kleinen ausgewählten. Mit ihrer besten Freundin ist sie seit dem 1. Schultag unzertrennlich, sogar trotz mittlerweile unterschiedlicher weiterführender Schulen. Die meisten ihrer Freund*innen sind ebenfalls eher von der ruhigeren Sorte, sie harmonieren alle sehr gut miteinander.
Wie haben die Lehrkräfte reagiert, als sie davon erfuhren, als Eltern hat man ja doch auch oft Sorge vor Stigmatisierung…
Die Lehrer*innen in der Grundschule waren super. Meine Tochter saß in der ersten Reihe und wurde einfach spontan immer wieder aufgerufen und ermutigt. Das ist an sich toll, da sie in der mündlichen Mitarbeit unglaublich gehemmt ist. Jetzt an der weiterführenden Schule habe ich das persönliche Gespräch mit den Klassenlehrern gesucht und sie über unsere Tochter informiert.
Nach dem ersten Halbjahreszeugnis haben wir allerdings gemerkt, dass keiner wirklich darauf eingegangen ist. Das Zeugnis war wirklich toll, aber man merkte, dass alle mündlichen Fächer eine Note schlechter bewertet wurden. Die Umstellung von Grundschule auf das Gymnasium, von zwei Lehrkräften auf plötzlich sieben plus die neue „große“ Schule und 30 neue Mitschüler war doch schon sehr anstrengend für unsere Tochter.
Bekommt eure Tochter als Fünftklässlerin irgendeinen schulischen Nachteilsausgleich?
Die Schulspsychologin lud uns nach dem ersten Halbjahreszeugnis zum Gespräch ein. Sie klärte uns auf, dass unsere Tochter, da sie eine bestätigte Diagnose hat, auch einen Anspruch auf Nachteilsausgleich für die mündliche Benotung hat. Dies wussten wir tatsächlich nicht. Sie erzählte auch, dass es mehrere Schüler*innen wie unsere Tochter gibt und die Schule bisher gute Erfahrungen sammeln konnte. Durch den Nachteilsausgleich dürfte unsere Tochter dann mündlich nicht mehr voll benotet werden, aber als Ausgleich z.B. eine schriftliche Zusatzarbeit abgeben.
Sie dürfte sogar Referate zu Hause per Video aufnehmen und diese dann der Lehrkraft zusenden, falls sie diese nicht vor versammelter Klasse vortragen möchte oder kann, um mal ein paar Beispiele zu nennen. Alle Lehrer wissen dann Bescheid und einmal pro Monat soll unsere Therapeutin einen Zweizeiler von den Lehrkräften erhalten mit der Info, wie der Monat so verlaufen ist. Die Therapeutin hat gerade das Empfehlungsschreiben für die Schule fertiggestellt und am Montag geht es zur Schulpsychologin.
Was wünschst du dir für deine Tochter und für euch als Familie, wenn du an die nächsten Wochen und Monate denkst?
Ich hoffe, dass durch den Nachteilsausgleich dieser Druck, sich immer melden zu „müssen“, endlich von uns allen abfällt. Dass wir sie nicht mehr ständig fragen müssen: „Und, wie war die Schule, hast du dich heute gemeldet? Wenn ja, wie oft?“ Sie hat in den letzten Monaten durch die Therapie unglaubliche Sprünge gemacht, wir alle wünschen ihr von Herzen, dass sie diesen Weg beibehält und irgendwann soweit ist, dass sie ihre Ängste vielleicht sogar vollständig „kontrollieren“ kann und sie ein wirklich tolles, selbstbestimmtes Leben führen wird!
1 comment
Es ist beruhigend zu lesen, dass es Familien gibt, die diese große Herausforderung schultern können und ein System um sich haben, das sie stützen kann. Ich arbeite in der stationären Jugendhilfe und kenne diverse Betroffene mit dieser Art von Diagnose und sehe vielleicht zu häufig, dass die Familien bzw. das System das eben nicht wuppen kann.
Mir macht dieser Artikel wieder Mut, dass es Wege daraus bzw. Umgang lernen geben kann. Herzlichsten Dank für diesen sehr privaten und aufbauenden Einblick. Ich wünsche euch weiterhin viel Kraft und Zuversicht für euren weiteren Weg!