Ihr Lieben, laut Gesetzt haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. „Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, steht im BGB. Doch leider erleben jeden Tag viele Kinder Gewalt in ihrem häuslichen Umfeld und diese Gewalt zerstört Kinderseelen und prägt ein Leben lang. Unsere Leserin Ulli hat Schreckliches erlebt, von dem sie hier erzählt.
*Triggerwarnung körperliche Gewalt* Bitte lies diesen Text nur, wenn du emotional stabil bist. Wenn du selbst Gewalt erlebst, kannst du dich rund um die Uhr auch anonym an das Hilfetelefon 116016 wenden.
Liebe Ulli, kannst du uns erzählen, in welchen Umständen du groß geworden bist?
Ich bin das Jüngste vom drei Geschwistern, geboren 1972. Als ich auf die Welt kam, war meine Mutter bereits 41 und mein Vater 43. Ich war ein „Unfall“. Ich habe eine Schwester und einen Bruder, den ich aber nicht als Bruder bezeichnen kann, deswegen werde ich ihn hier „der Andere“ nennen.
Mein Vater war Schreiner und da er auch auf Montage war, hab ich ihn oft nur am Wochenende gesehen, und da war er meist betrunken. Er hielt sich den ganzen Tag im Keller auf und hat ein Bier nach dem anderen getrunken.
Meine Mutter hat in einer Gärtnerei als Hilfskraft gearbeitet und hatte nie Zeit für mich. Sie war meist gereizt und genervt von mir, weil ich Aufmerksamkeit wollte. Da ich nicht gut in der Schule war, hätte ich auch Unterstützung bei den Hausaufgaben gebraucht, doch die gab es auch nie. Meine Eltern haben sehr viel gestritten und kamen eigentlich nie gut miteinander aus.
Du hattest also keine liebevollen Eltern…
Nein. Rückblickend kann ich sehen, dass meine Mutter depressiv war und mein Vater Alkoholiker, der jedem und allem gegenüber misstrauisch war. Obwohl wir jahrelang im gleichen Haus lebten, kann ich heute kaum etwas über meine Eltern sagen, weil wir nie eine Beziehung zu einander hatten.
Es gab auch Gewalt, richtig?
Ja, wie ich schon oben erwähnte, hatte ich neben diesen Eltern auch noch einen völlig gestörten „Bruder“ und dieser war wirklich ein Problem. Er hat uns verbal gedemütigt und uns geschlagen, meine Schwester hat er fast mal erwürgt. Meine Mutter hat ihn immer in Schutz genommen und gesagt: „Er ist halt ein Bub“ oder „Er kann ja nicht anders, mein Vater war ja auch so.“ Meine Schwester und ich hatten also keinerlei Unterstützung und waren ihm schutzlos ausgeliefert.
Meine Mutter war auch gewalttätig, hat uns mit Füßen getreten. Einmal hatte ich eine ihrer Schlaftabletten genommen, um einfach mal zu sehen, wie ist das. Als sie das herausgefunden hat, hat sie mich am nächsten Tag halb totgeprügelt.
Es gab nie Liebe, immer nur Abwertung und Gewalt. Ich wollte zum Beispiel Gitarre spielen lernen. Meine Mutter sagte nur, “ Ich gehe doch nicht in die Arbeit für deinen Gitarren Unterricht „. Einmal hatte ich meinem Vater Geld geklaut, weil ich mir etwas kaufen wollte, was meine Eltern überflüssig fanden. Als er das herausfand, hat er mich noch auf dem Boden liegend getreten. Dazu kamen all die Übergriffe des „Anderen“.
Wie entsetzlich. Wie hast du als Kind auf all das reagiert?
Manche Kinder ziehen sich ja dann total zurück und verstummen. Ich dagegen habe mit Wut und Trotz reagiert, war absolut kein „braves“ Kind. Ich war sehr auffällig in der Schule, hatte schlechte Noten. Das waren alles Schreie nach Hilfe und Liebe, aber niemand hat das wahrgenommen und mir geholfen.
Wie bist du auch heute als Erwachsene noch von dieser Kindheit geprägt?
Ich habe Ängste, jeden Tag, wenn ich aufwache bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich ins Bett gehe. Manchmal habe ich schlimme Alpträume. Ich war natürlich in Therapie und versuche, mein Leben trotzdem so weit wie möglich normal zu leben.
Ich habe eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht habe und arbeite in der Psychiatrie. Diese Aufgabe hat mir selber in sehr vielen Dingen geholfen, um eine andere Sichtweise auf alles zu bekommen. So sehe ich mich nicht mehr als schuldig für das Leben meiner Eltern – denn jahrelang haben sie mir ja gesagt, ich sei schuld daran, dass sie „unfrei“ seien.
Wie ist heute der Kontakt zu deinen Eltern?
Mein Vater ist 2010 nach einem Schlaganfall gestorben, meine Mutter 2016, nachdem sie 7 Jahre mit Alzheimer im Pflegeheim war.
Hast du selbst Kinder? Wenn ja, was ist dir im Umgang mit ihnen besonders wichtig?
Ich habe zwei erwachsene Kinder, denen ich mit auf den Weg geben wollte, wie wichtig sie mir sind und dass sie alles erreichen können was sie wollen. Aber ich habe nach der Trennung von ihrem Vater auch Fehler gemacht, war nicht so für sie da, wie sie es verdient hätten. Zum Glück haben wir über all das viel gesprochen und sie haben mir meine Fehler verziehen.
Was würdest du deinen Eltern heute sagen, wenn du sie sehen würdest?
Ich würde meine Eltern fragen, warum sie überhaupt Kinder in die Welt gesetzt haben. Und warum sie uns nicht vor dem „Anderen“ beschützt haben. Ich bin mir sicher, mein Leben wäre anders verlaufen, hätten wir all das nicht erleben müssen.