Ihr Lieben, neulich hatten wir den Bericht von Jeanette, deren Tochter Diabetes hat. Sie erzählte, wie diese Diagnose das ganze Leben durcheinander gewirbelt hat. Daraufhin schrieb uns Karo und sagte: „Ein chronisch/schwer krankes Kind macht mit der gesamten Familie etwas. Alle Familienmitglieder sind von so einer Diagnose betroffen.“ Wir wollen mehr über Karos Familie erfahren und sind sehr berührt von diesem Interview.
Liebe Karo, du hast dich nach dem Bericht über chronisch kranke Kinder bei uns gemeldet. Euer jüngster Sohn Ben, heute 9 Jahre alt, hat mit drei Jahren die Diagnose Leukämie erhalten. Kannst du uns von dieser Zeit erzählen?
Die Diagnose kam für uns aus dem heiteren Himmel. Er hatte über 1,5 Wochen immer mal wieder erhöhte Temperatur, war aber sonst fit. Er ist unser drittes Kind, ich war da eigentlich echt entspannt und dachte nur, ich sollte vielleicht doch mal abklären lassen, nicht dass was in den Ohren sitzt. Die Kinderärztin hat auch nichts gefunden, was auf das Fieber hinweisen könnte und gefragt, ob wir einer Blutentnahme zustimmen würden.
Haben wir dann gemacht und ich sollte am nächsten Morgen anrufen und die Werte erfragen. Und da hieß es nur, so schnell wie es geht in die nächste Uni-Kinderklinik, mit den Werten stimmt etwas nicht.
Ich weiß noch, dass ich meinen Mann angerufen habe, er soll bitte kommen und mitfahren und meine Eltern, dass sie die beiden großen Kinder versorgen. Ich habe ein paar Sachen eingepackt und los. 1,5 Stunden Fahrt von uns. Dort haben wir 3 Stunden in der Notaufnahme gewartet, dann wurden wir in die Onkologie geschickt. Selbst da habe ich es nicht wahr genommen und immer noch gedacht, es ist eine verschleppte Erkältung.
Aber es war eben keine Erkältung….
Nein, das Zimmer wurde immer voller, Professor, Chefarzt, Psychologin und auf einmal fiel der Satz „Verdacht auf Leukämie“. Bumm. Ich habe kurz geschwankt und dann kam der Gedanke: „Das kann nicht sein, das geht jetzt auch nicht, in zwei Tagen ist die Einschulung von Emil (unserem Mittleren), in 2 Wochen heiratet meine Schwester, das geht nicht.“
Es hieß, man würde am nächsten Tag eine Knochenmarkpunktion machen, dann könne man es sicher sagen. Aber was klar war, Ben brauchte sofort Blut. Er hatte einen Hb unter 6, da musste man direkt handeln.
Und dann kam die Diagnose und es war klar, dass ihr ein wirklich sehr schwer krankes Kind habt.
Genau, am nächsten Tag war die Punktion und direkt danach war auch schon klar, dass sich der Verdacht bestätigt. Ben hat eine ALL (Akute Lymphatische Leukämie). Wir wurden aufgeklärt, mussten zig Dokumente unterschreiben, bekamen einen Fahrplan für die ersten Wochen. Ich kam im Kopf nicht mehr hinterher. Vor 2 Tagen hatte ich ein gesundes Kind und jetzt ging es um Überlebenschancen? Und Ben ging es gut. Er turnte durchs Bett, wollte beschäftigt werden und hat nichts verstanden, was eigentlich los ist.
Die ersten beiden Nächte waren der Horror. Wenn er schlief, dann kamen bei mir die Tränen. Ich weinte nur noch. Ich hatte solche Angst vor der Zeit. Der Gedanke, dass er es nicht schaffen könnte, den gab es nicht. Es ging nur drum, wie wir die Zeit überstehen. Die anstehende Einschulung, dass ich nicht bei meinen zwei Großen sein konnte, nicht zu wissen, wie es weitergeht, wie wir das alles schaffen sollen. Und ab dann war nur noch Funktionieren angesagt. Stark sein für Ben, für Emil und Greta.
Welche Behandlungen hat euer Sohn Ben wie lange erhalten?
Die Behandlung gliederte sich in eine Intensiv- und eine Erhaltungsphase. In der Intensivphase wechselten sich verschiedene Therapien ab. Es gibt ein sogenanntes Protokoll, das vorgibt welche Therapien wann gemacht werden. Das sind verschiedene Chemotherapien, Cortisonphasen, Punktionen und Chemospritzen direkt ins Rückenmark. Zwischendurch immer wieder warten, dass sich die Blutwerte erholen, um mit der nächsten Therapie starten zu können.
Es waren viele stationäre Aufenthalte, aber auch viele viele Tage in der Tagesklinik oder der Ambulanz zur Kontrolle. Zwischendurch gab es immer wieder Pausen, in denen wir Zuhause waren und versuchten den Alltag aufrecht zu erhalten. Nach 8 Monaten hatte Ben die Intensivphase geschafft. In der folgenden Erhaltungstherapie musste er täglich Tabletten nehmen, um die Leukozyten im unteren Bereich zu halten und einmal in der Woche noch eine Chemotablette.
Einmal in der Woche musste er dann zur Kontrolle in die Klinik, dort wurden die Blutwerte kontrolliert und die Dosis festgelegt. Die Phase ging über 1,5 Jahre. Dann war die Therapie beendet und wir hatten 1x im Monat Kontrollen, die nach und nach weniger wurden. Jetzt sind wir nur noch bei 2 mal im Jahr und mit jedem Mal, an dem es keinen Rückfall gab, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass es zur einem Rezidiv kommt.
Seither hat Ben noch andere Auffälligkeiten entwickelt. Was genau?
Genau. Schon während der Behandlung haben wir bemerkt, dass Ben im Krankenhaus nur mit uns spricht. Sobald andere (Mitpatienten, Schwestern, Ärzte) mit dazu kamen, flüsterte er nur noch in unser Ohr. Wir haben das noch auf die Kliniksituation geschoben und dachten, dass er dann schon wieder anfangen wird, zu reden. Das war leider nicht so.
Noch heute redet er nur mit der engen Familien und einem Freund. Bei allen anderen ist er wie blockiert. Er kann auch in vielen Situationen nicht zur Toilette gehen, konnte z.B. im Kindergarten auch nicht essen. Das sind alles Symptome des Selektiven Mutismus, den wir dann als Diagnose bekamen. Er verstummt. Nicht vollständig, aber in vielen Lebensbereichen.
Heute wird vermutet, dass es durch die Behandlung ausgelöst wurde. Er konnte dort vieles nicht kontrollieren, war hilflos, musste vieles über sich ergehen lassen. Was er selbst steuern kann ist, ob er redet, isst und wo er zur Toilette geht.
Er geht mittlerweile in der dritte Klasse einer normalen Grundschule. Die Lehrer machen es super mit ihm und er ist auch ein guter Schüler. Allerdings steht er enorm unter Druck, das „Nicht-reden“ ist anstrengend. Es verhindert Freundschaften zu knüpfen, zu zeigen was man kann, Konflikte zu lösen und vieles mehr. Das staut sich auf und Zuhause kommt es raus. Er ist dann auf der einen Seite wie ein Kleinkind (er geht kein Schritt ohne Mama, fordert in ganz vielen Alltagsdingen noch vehement Hilfe ein) und auf der anderen Seite kommt es immer wieder zu massiven Wutausbrüchen, wo sich der angestaute Druck löst.
Auch an den Geschwistern von Ben ist diese schwere Zeit nicht spurlos vorbeigegangen. Wie geht es den großen Geschwistern?
Greta war schon immer eher jemand, der alles mit sich ausmacht. Sie hat ganz lange keine Umarmungen mehr zugelassen, kann schwer Beziehungen zu anderen aufbauen und wirkt oft sehr emotionslos, weil sie alles abschottet.
Emil hat eine Essstörung entwickelt. Er war vorher schon ein mäkeliger Esser, aber seither gibt es nur noch eine Handvoll Lebensmittel, die er essen bzw auch nur anfassen kann. Zudem kamen letztes Jahr immer wieder Panikattacken dazu.
Ihr habt nun also drei Kinder mit besonderen Herausforderungen. Wie geht ihr Eltern damit um?
Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Wir haben ganz lange einfach nur funktioniert und uns gegenseitig versucht den Rücken freizuhalten. Ich war dann in psychologischer Behandlung, um für mich die Diagnose Leukämie aufzuarbeiten. Das hat mir sehr geholfen.
Mein Mann möchte das für sich nicht und konnte auch ganz lange nicht darüber reden. Das fängt jetzt erst so langsam an, dass er sich da etwas mehr öffnen kann. Zwischendurch hat es uns sehr zusammengeschweißt und wir waren auch stolz wie wir das gemeinsam geschafft haben. Mittlerweile gehen uns aber beiden die Kräfte aus und es ist gerade mehr ein „überleben“ statt ein zusammenleben.
Versuchst du dir, irgendwie auch Auszeiten zu nehmen? Grade, wenn du merkst, dass die Kraft ausgeht?
Klar, ich versuche mit kleinen Auszeiten mit Freundinnen, mit einem guten Buch, einem Konzert, langen Spaziergängen meine Akkus zu füllen. Aber gefühlt ist die Ladefunktion kaputt. Es sind jetzt schon fast 6 Jahre und es war immer die Hoffnung, dass es besser wird, dass wir nur noch ein wenig durchhalten müssen. Die Hoffnung geht aber immer mehr verloren und das macht es schwieriger durchzuhalten.
Was ist das Schwerste für dich momentan?
Ich habe mein Vertrauen verloren, dass alles gut wird. Ich war immer positiv und hab Gedanken an Probleme, Krankheiten oder dass ein Unglück passieren könnte, weit weg schieben können. Das geht nicht mehr. Die Angst, eine Krankheit oder ein Unglück könnte mir meine Kinder nehmen, ist jetzt immer im Hinterkopf.
Und ja, die Bürokratie ist halt ein riesen Berg. Ben hat Pflegegrad 3, noch einen geringen Grad der Schwerbehinderung, das alleine ist viel Papierkrieg. Durch die private Versicherung läuft jede Rechnung über meinen Schreibtisch, muss eingereicht und überwiesen werden. Das kommt alles noch zum eh schon stressigen Alltag dazu.
Was würdest du dir für euch wünschen?
Dass alle gesund bleiben. Dass Ben es schafft zu reden und dass meine Kinder mit ihren Eigenheiten so akzeptiert werden wie sie sind. Und ich wünsche mir wieder die Leichtigkeit zurück, die wir vor der Leukämie hatten. Die fehlt sehr.
Und was würdest du dir von der Gesellschaft und deinem Umfeld wünschen?
Von der Gesellschaft: Ein Blick hinter die Kulissen, bevor verurteilt wird. Ja, ich bringe bei Veranstaltungen Emil was zu essen mit. Ja, Greta kann niemanden in die Augen schauen und Hallo sagen. Und ja, ich übernehme das Reden für Ben in vielen Situationen. Aber all das hat Gründe.
Ich wünsche mir Verständnis dafür, dass nicht alles gut ist, weil Ben die Leukämie besiegt hat. Die Probleme danach belasten uns seit 5 Jahren. Oft denke ich, sie ziehen uns mehr Kraft als die ganze Intensivphase.
Von meinem Umfeld: Bleibt genauso! Unsere Familie und Freunde unterstützen uns wo sie nur können. Das kann ich gar nicht in Worte fassen, wie dankbar ich dafür bin.