Nach Fruchtwasserembolie mit Amputationen: „Ich wollte unbedingt eine Mutter für meine Kinder sein“

Fruchtwasserembolie

Andrea Dahm mit ihren Töchtern.

Ihr Lieben, mein Name ist Andrea, ich bin 41 Jahre alt, meine große Tochter ist acht und die „Kleine“ wird am Sonntag fünf. Mein Mann und ich sind immer noch glücklich verheiratet.

Wenn mich jemand fragt, was ich mir wünschen würde, fällt mir immer zuerst ein, dass ich gerne meine Hände und Füße wieder hätte… 😉 Nachdem das leider kein realistischer Wunsch ist, würde ich mir für uns alle gerne die Normalität und Selbstverständlichkeit von „Vor Corona“ zurückwünschen. Mal sehen, ob dieser Wunsch realistischer ist. Ansonsten bin ich rundum glücklich. Ich habe eine tolle Family mit Hund und drei Katzen.

„Sport, Natur und die Berge waren früher mein Leben“

Geboren bin ich 1979, ich war immer sehr sportlich, immer in der Natur unterwegs, habe getanzt, bin viel geritten und in den Bergen unterwegs gewesen, von Wandern bis Klettern.

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Andrea Dahm mit ihrem Mann Roland

2013 kam unsere erste Tochter Annika gesund zur Welt, am 14.3.2016 kam unsere zweite Tochter Charlotte mit einem medizinisch notwendigen Kaiserschnitt gesund zur Welt. Beim Lösen der Plazenta erlitt ich über eine Monitorlänge einen Herzstillstand, mein Herz fing aber wieder selbständig an zu schlagen.

Nach der Geburt begannen die Blutungen

Daraufhin kam ich für zwei Stunden zur Überwachung und durfte erst danach zu meiner Tochter. Während dieser zwei Stunden hätte eigentlich ein Sandsack auf meinen Bauch gehört, da ich verhältnismäßig stark geblutet hatte, es aber wohl im ganzen Krankenhaus keinen verfügbaren gab!

Nach weiteren zwei Stunden auf der Normalstation und nicht endenden Blutungen wurde ich wieder in den OP gebracht. Man wollte die Kaiserschnittnarbe nochmal anschauen. Ich warf meinem Mann, Charlotte und einer Freundin noch eine Kusshand zu und sagte, dass sie gut auf Charlotte aufpassen sollen. Wer konnte ahnen, dass ich erst wieder am 2.12.2016, nach 263 Tagen Krankenhaus nach Hause kommen würde?

263 Tage Krankenhaus nach der Entbindung der zweiten Tochter

Aber zurück zur OP, ich wurde dort in Vollnarkose gelegt. Mein Herz hat noch anderthalb Stunden durchgehalten, dann hat es aufgehört zu schlagen. Sie konnten den Blutungsgrund nicht finden, zweieinhalb Stunden wurde ich händisch mit Herzdruckmassage reanimiert. Ich hatte eine fulminante Lungenembolie.

Der Rettungshubschrauber aus dem Klinikum Großhadern kam und ich wurde unter laufender Reanimation an die ECMO (Herzlungenmaschine) angeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass ich bei der Entbindung eine Fruchtwasserembolie erlitten hatte, bei der Fruchtwasser ins Blut gerät und einen Schock auslöst.

(Anmerkung der Redaktion: Diese Komplikation tritt laut Wikipedia in Industrieländern nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 80.000 bis 1 zu 120.000 auf.)

Fruchtwasserembolie: Sehr seltene Form der Geburtskomplikation

Die Folgen sind kaum kontrollierbare Gerinnungsstörungen. Auf der einen Seite läuft das Blut einfach aus dir raus, auf der anderen Seite bilden sich zig Thromben und verstopfen Herz, Lunge, Gefäße etc. Ein Teufelskreislauf, den 90% der Betroffenen nicht überleben.

Ich habe es überlebt, aber mit gravierenden Folgen: Ich lag vier Wochen im Koma, habe über 40 Blutkonserven erhalten, zig Operationen und aufgrund der kreislaufstabilisierenden Medikamente (um die Versorgung der lebensnotwendigen Organe zu gewähren) sind die körperentferntesten Glieder (Hände und Füße) abgestorben. Durch die Reanimationsverletzungen sind außerdem der Dickdarm und Teile meiner Bauchmuskeln abgestorben.

Unterarm, Unterschenkel, Füße, Hände: Amputationen bei der Mama

Drei Monate später waren meine Füße und Hände kohlrabenschwarz, eine erhoffte Rettung unmöglich. Somit wurden mir am 17.06.2016 beide Unterschenkel und am 21.06.2016 der rechte Unterarm, sowie die linke Hand amputiert.

In den nächsten sechs Monaten habe ich mich Schritt für Schritt zurück ins Leben gekämpft. Ich wollte unbedingt eine Mutter für meine Kinder sein und möglichst nahe an mein altes Leben anknüpfen. Als ich entlassen wurde, habe ich bei 1,72 m nur noch 45 kg gewogen und konnte nichts alleine.

Zurück ins Leben: „Die Zeit nach der Klinik war brutal hart“

Die nächsten 14 Monate waren brutal hart: Charlotte musste erst verstehen, dass ich ihre Mama bin, ich musste auch alles neu lernen. Charlotte hatte mit ihren damals neun Monaten wahnsinnige Probleme mit den Prothesen, gerade mit der Handprothese. (Ich trage nur rechts eine Prothese).

Sie musste beim Laufenlernen lernen, dass Mama sie nicht festhalten kann, sondern sie sich an der Mama. Dass das Wickeln mit Mama zig Mal länger dauert, Socken anziehen ganz anders funktioniert, Brei füttern… aber wir haben es gemeistert 🙂 Von 2017 bis 2020 hatten wir viel Unterstützung im Haushalt und beim Kochen. Mittlerweile schaffen wir es als Familie größtenteils alleine.

Was ich aus der Zeit mitgenommen habe: Es gibt keine Grenzen!

Was ich aus dieser Zeit mitgenommen habe? „Es gibt keine Grenzen, die Grenzen setzen wir uns ganz alleine im Kopf!“ und „Jeden Tag einen Schritt mehr, der Glaube versetzt nämlich Berge – im Positiven wie Negativem.“ Mit den Prothesen komme ich sehr gut klar, sie sind ein Teil von mir und werden nur zum Schlafen abgelegt. Einen Rollstuhl benutzte ich nicht mehr.

Im September 2020 habe ich mir meinen Traum erfüllt und bin mit meinem Mann Roland, unserem Hund Felikes und zwei Freunden zur Höllentalangerhütte am Fuße der Zugspitze gewandert. 12 Kilometer und 1.300 Höhenmeter. Nichts ist unmöglich… oder fast nichts.

„Was ich wirklich vermisse: Händchen halten“

Es gibt Dinge, die ich mit dem heutigen Stand der Technik oder mit meinen Prothesen nicht kann. Ich werde nie wieder klettern, mit meinen Prothesen kann ich nicht rennen oder joggen. Und die Hände? Das ist der viel größere, viel schwerer zu ersetzende Verlust. Nie mehr so spüren wie früher, kein „Händchen halten“ mehr. Oder die praktischen Dinge: Ein Pferdeschwanz für die Kinder – unmöglich. Mir die Augenbrauen zupfen? Unmöglich.

Eigentlich ist alles unmöglich, wofür man zwei Hände braucht, manches Essen geht auch nur geschnitten, z.B. Spaghetti, ansonsten – unmöglich.

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Andrea mit Mann und Hund beim Wandern in den Bergen.

Kleine Erfolge für die Selbständigkeit gibt es aber: Hosenknöpfe selber zu machen, BH an- und ausziehen. Alles bedarf viel Übung, viel mehr Zeit als normal und wehe eine Prothese hat einen technischen Defekt!

„Viele Leute merken gar nicht, dass ich vierfach amputiert bin“

Ich gehe sehr offen mit meiner Geschichte um und finde es immer wieder faszinierend, dass viele Leute gar nicht merken, dass ich 4-fach amputiert bin. Am meisten fällt allerdings die linke Hand ohne Prothese auf.

Ich fahre wieder Auto und Fahrrad; auch wenn es ein Dreirad ist, wir machen tolle Urlaube in Kanada, Schweden, Dänemark. Mein Mann kann wieder Vollzeit arbeiten, eigentlich sind wir eine ganz normale Familie!

Natürlich vermisse ich ab und zu mein altes Leben, es ist für mich vieles einfach komplizierter und zeitaufwändiger. Alles muss gut geplant und durchdacht sein, keine Spontanität – sogar Duschen ist zeitaufwändiger, da ich alle Prothesen aufwändig in Badeprothesen wechseln muss.

Keine Spontanität mehr: Alles muss gut geplant und durchdacht sein

Auch Kleidungwechseln geht nicht immer ohne Hilfe, ich musste mich von allen bisherigen Schuhen verabschieden und auch kleidungstechnisch musste ich mich umstellen.

Ich werde oft gefragt, woher ich meine Stärke und Positivität habe. Da kann ich nur antworten: Ich war schon immer so, ich glaube daran, dass alles seinen Sinn hat, schaue nach vorne und verliere nie mein Ziel aus den Augen.

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Andrea mit ihren zwei Töchtern am Strand.

Am Sonntag wird unsere kleine Maus 5. Wir feiern einen ganz normalen Geburtstag, Wehmut oder Schwermut ist mit diesem Tag nicht verbunden! Unsere Große, Annika hilft mir schon in vielen Dingen ganz zauberhaft und spielerisch, wie Kuchen backen, Salat waschen, Dressing machen…

Wenn Schicksalsschläge Dankbarkeit lehren

Ich kann allen nur raten, nicht so auf Äußerlichkeiten zu achten, das Leben ist viel zu kurz und viel zu schön, um sich permanent Gedanken darüber zu machen, wie man aussieht, ob man der augenscheinlichen Norm entspricht.

Ich habe wunderbare Menschen, Freunde, Familie um mich und da hat sich zwischen damals und jetzt nichts geändert. Warum auch? Als Mensch habe ich mich nicht verändert, nur körperlich, ein bisschen mehr Terminator 🙂

Ich bin unendlich dankbar, dass ich meine Kinder aufwachsen sehen darf, so viel Selbständigkeit zurückbekommen habe und genieße jeden Tag mit meinem Mann und Kindern.

Anmerkung der Redaktion: Wir können kaum in Worte fassen, wie sehr du uns mit deiner Lebenseinstellung beeindruckst, Andrea. Wir wünschen dir, deiner Tochter Charlotte, deiner Familie einen wunderbaren fünften Geburtstag am Sonntag. Fünf Jahre neues Leben! Wow, Wahnsinn!

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15 comments

  1. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag heute für Eure Kleine! Ich bin unfassbar beeindruckt und wünsche Dir und Euch weiter so viel Stärke, Liebe und einfach alles, alles Gute! ❤️

  2. Ich bin voller Mitgefühl, aber auch totaler Bewunderung. Salut! Salut vor deinem Kampfeswillen mit solchen Hindernissen so umzugehen. Eine unglaubliche Geschichte. Ich wünsche dir und euch als Familie alles Gute und dass ihr eure gemeinsame Zukunft weiterhin so genießen könnt. Vielen Dank für das teilen deiner Geschichte, es ist wichtiger, dass andere davon lernen können und über solche Komplikationen auch Bescheid wissen.

  3. Liebe Andrea, meine Bewunderung für Dich kann ich kaum in Worte fassen. Ich finde es unglaublich beeindruckend, wie Du mit diesem Schicksalsschlag umgehst, und wünsche Dir und Deiner ganzen Familie alles Glück der Welt!

  4. Ich bin so berührt von Andreas Erlebnissen und beeindruckt von ihrer positiven Sichtweise auf die Dinge! Alles Gute für diese tolle Familie.

  5. Wow! Einfach nur wow!
    Ich ziehe den Hut vor Dir!

    Kleiner Funfact: als ich das erste Bild mit Hund in den Bergen ansah, habe ich die Prothesen nicht wahrgenommen. Nur Dein strahlendes Gesicht, das Deines Mannes und Euren Hund vor tollem Panorama! ❤️

    1. Wahnsinn. Deine Geschichte, das weiß ich jetzt schon, wird mir für immer in Erinnerung bleiben. Es gibt solche Stories, die brennen sich ein, weil sie so unfassbar sind. Meine dritte Tochter ist ungeplant als Kaiserschnitt geboren worden, nachdem ich zuvor 2 Bilderbuch-Geburten hatte. Ab und zu kam ein Gedanke des haderns in mir auf: „warum lief es nicht rund?“… völliger Schwachsinn. Der Kaiserschnitt war nicht geplant, aber alle sind gesund und munter. Deine Geschichte zeigt mir, dass man manchmal das Schicksal gar nicht richtig wahrnimmt. Man hatte Glück und sucht etwas, das nicht perfekt war, obwohl das doch so unwichtig ist. Du bist eine wahrlich starke Frau und mein absolutes Vorbild: nichts ist unmöglich. Die Grenze setzt man sich fast nur selbst. Danke, das du uns von deiner Geschichte berichtet hast. Du bist ein wahres Vorbild & eine tolle Mami!

  6. Liebe Andrea,
    Du bist eine unfassbar starke, mutige und unglaubliche Frau! Ich kenne dich nicht, aber fühle mich so beeindruckt und inspiriert von deiner Stärke, deinem Mut und deinem Glauben an dich selbst, wie positiv du bist.
    Danke, dass du deine Geschichte mit uns teilst. Du bist unglaublich.
    Habt einen wunderbaren Geburtstag!
    Liebe Grüße, Katrin

  7. Liebe Andrea, vielen Dank für deine Geschichte. Zuerst fehlen mir einfach die Worte. Unglaublich, was passiert ist und deine Lebenseinstellung ist für mich bewundernswert.
    Ich hatte nach dem Kaiserschnitt bei Tochter 1 Lungenversagen (ARDS)und eine Gerinnungsstörung. Die Folge waren neun Tage Koma und Dank des Einsatzes der ECMO (damals gab es deutschlandweit nur fünf und zufällig eine in meiner Stadt, die auch noch frei war) habe ich überlebt. Aber mein Mann wusste damals, dass jeder Tag mehr an der ECMO zum Absterben der Beine führen konnte.
    Ich hatte Glück im Unglück. Es ging gut für mich aus und trotzdem habe ich lange und oft gehadert.
    Andere entbinden doch auch unproblematisch….

    Dein Bericht macht mich demütig. Du strahlst soviel Positives aus.
    Ich wünsche dir wirklich von Herzen alles Gute und morgen eine schöne Geburtstagsfeier.
    Alles Liebe, Tanja

  8. Wahnsinn, dein Bericht und vor allem deine positive Lebenseinstellung haben mich so beeindruckt! Das zeigt auch mein erster Eindruck bei eurem Wanderbild: Ich hatte bei Insta nur in eure strahlenden Gesichter geschaut und mich gefragt, welche Geschichte wohl hinter der Überschrift steckt…

  9. Wow! Ich bin sprachlos! Mir fließen beim Lesen die Tränen. Du bist eine tolle und bewundernswert starke Frau! Von dir und deiner Einstellung kann man viel lernen und ich mir eine große Scheibe abschneiden!
    Du bist so positiv und ich wünsche dir einfach nur alles Gute. Das Beste machst du ja sowieso draus!
    Ich ziehe wirklich den Hut vor dir!
    Viele Grüße eine tolle Party am Sonntag!

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