Kinder verstehen: Warum steckt in den Kleinsten so viel Wut?

Porträt Sandra Winkler

Es kann jeden Moment passieren. Gerade noch schien die Welt völlig in Ordnung zu sein, doch dann, urplötzlich, bricht eine unbändige Wut aus dem kleinen Menschen hervor. Er windet sich, schreit, keift, weint, läuft rot an, wirft sich zu Boden, boxt und tritt um sich, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand. Eine Szene wie aus dem ›Exorzisten‹. 

Die ersten Wutanfälle des Nachwuchses sind furchterregend. Und selbst wenn das Kind später regelmäßig drei, vier Mal am Tag durchdreht, ist man jedes Mal aufs Neue irritiert – über die Wucht, die hinter einem Ausraster steckt, aber auch darüber, was alles der Auslöser sein kann. Im Internet veröffentlichen Eltern sogar detaillierte Listen, in denen sie aufzählen, aus welchen Gründen ihre Kinder in Rage geraten. Wahrscheinlich mit der Hoffnung »geteiltes Leid ist halbes Leid«. Ein Auszug: 

Ich habe ihm den falschen Löffel für seinen Joghurt gegeben. 

Sie wollte ihr Elsa-Shirt tragen, das in der Wäsche war. 

Er hat festgestellt, dass heute nicht sein Geburtstag ist. 

Ich habe mich auf ihren imaginären Freund gesetzt. 

Die Folge von ›Paw Patrol‹ war zu Ende. 

Wir mussten los. 

Ich habe sie nicht ans Telefon gehen lassen. 

Ich musste das Abendessen kochen. 

Er hat sein Glas umgekippt. 

Ich wollte ohne sie duschen. 

Ich habe ihr gesagt, sie soll baden. 

Ich habe ihr gesagt, sie soll aus der Badewanne herauskommen. 

Ihre Schwester hat den Pyjama schneller angezogen als sie. 

Alles Anlässe für große Dramen, rotzverschmierte und tränenüberströmte Gesichter. Als »blöde Mama« oder »scheiß Papa« beschimpft, steht man kopfschüttelnd und ratlos neben dem kleinen Wutball und fragt sich: Woher kommt nur dieser Jähzorn? Ist das noch normal? 

Ja, ist es. Solche Anfälle gehören in die Kategorie: natürlich, wichtig, müssen sein. Sie sind keine Provokation, keine Dreistigkeit, keine Folge von schlechter Erziehung, sondern Teil eines Entwicklungsschrittes – weg von Mamas Rockzipfel und Papas Hosenbein, hin zu mehr Autonomie. 

In allen Kulturen dieser Welt haben Eltern mit den Wutausbrüchen ihrer Kinder zu kämpfen. Selbst kleine Schimpansen und Orang-Utans kommen ins Zornesalter und drehen durch, weil sie nicht auf Mamas Rücken reiten dürfen oder keinen Apfel mehr bekommen. Bei Menschenkindern beginnt die sogenannte Trotzphase mit etwa eineinhalb Jahren, wenn den Kleinen bewusst wird, dass sie nicht eins mit Mama und Papa sind, sondern selbstständige, unabhängige Menschen, die sich im Spiegel erkennen können, nur noch selten in der dritten Person von sich sprechen und einen eigenen Willen haben. 

Als solche würden sie am liebsten von heute auf morgen alles selber machen und alles allein entscheiden. »Nein« und »ich« werden zu ihren neuen Lieblingswörtern. Doch ein kleines Kind, das nach Autonomie strebt, stößt ziemlich schnell an seine Grenzen. Zum Beispiel wenn es beschließt: »Ich will jetzt noch im Sandkasten sitzen bleiben«, und die Eltern es trotzdem einfach nach Hause tragen. Wie ungerecht! Oder wenn beim Einschenken mehr Milch vorbeifließt als ins Glas. Oder wenn ihm so ziemlich alles, was es allein ausprobieren möchte, verboten wird. Messer, Gabel, Schere, Licht und so weiter. Wie frustrierend! 

Das Kleinkind hat also einige Gründe, um enttäuscht, traurig, zornig, verärgert zu sein. Es erlebt jetzt große Gefühle – hat aber noch keine Ahnung, keine Strategien, wie es mit ihnen umgehen soll. Deshalb reagiert es nicht besonnen wie Angela Merkel, sondern benimmt sich wie der Hulk, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Die Fähigkeit, Situationen auszuhalten und Gefühle zu beherrschen, muss ein kleiner Mensch erst erwerben. Bei jedem Wutanfall lernt er, mit seinem Zorn besser umzugehen. Statt einfach wie besessen loszuschreien, findet er Möglichkeiten, sich selber zu beruhigen. Diese Chance, sich weiterzuentwickeln, sollte man seinem Kind unbedingt lassen. Das Gezeter und Gebrüll ist eine Investition in die Zukunft. In der Trotzphase wird der Grundstein dafür gelegt, wie ein Kind später im Leben mit Stress und Konflikten umgeht. Ob es seine Emotionen kontrollieren und regulieren kann oder bei jeder Kleinigkeit den Klaus Kinski gibt.

Kinder – und somit ebenfalls ihre Eltern – müssen da also durch. Auch, wenn es auf beiden Seiten Nerven kostet. Auch, wenn der Nachwuchs sich im Supermarkt benimmt, als hätte man ihm gerade die Hände abgeschnitten (und nicht gesagt: »Lass die Tafel Schokolade los!«). Trotzdem sollten Eltern nicht versuchen, einen Wutanfall so schnell wie möglich zu beenden. Zum Beispiel indem sie den Kleinen einfach geben, was sie wollen. Kinder müssen die Erfahrung machen: Ich raste aus – und es hat mir nichts gebracht. 

Kommt es zu einem Wutanfall, kann man währenddessen nur wenig tun, außer dafür zu sorgen, dass weder das Kind noch man selber oder ein Einrichtungsstück Schaden nimmt. Am besten steht man seinem Kind bei und versucht, möglichst ruhig zu bleiben, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Einfach da sein und dem Kind zeigen: Ich sehe, dass du wütend bist. Ich liebe dich trotzdem. Denn auch wenn die Kleinen sich von ihren Eltern abgrenzen wollen, schwanken sie zwischen Autonomieanspruch und Geborgenheitsbedürfnis. Und sobald die Wut durchs Kind gebraust ist, will es in den Arm genommen und getröstet werden. 

Eltern, die die Aggressionsbewältigung ihrer Kinder unterstützen möchten, leben ihnen am besten vor, wie man sich angemessen aufregt: Sie brüllen also nicht selbst herum, wenn ihnen etwas nicht passt, sondern versuchen, möglichst ruhig über ihre Gefühle zu sprechen. Und sie sprechen mit ihren Kindern über deren Gefühle. Die Kleinen verstehen in der Regel, wenn man ihnen erklärt, dass sie ihren Willen und ihre Wut zwar zeigen dürfen, das Wie aber entscheidend ist: Lass deinen Zorn doch am Kissen aus, statt an deinem kleinen Bruder. 

Nach und nach wird das Kind immer besser darin werden, seine Gefühle in den Griff zu bekommen. Ungefähr im vierten Lebensjahr geht es nicht mehr ständig an die Decke. In der Grundschule sollte das Kind nur noch vereinzelt Wutanfälle haben. Dann haben die Eltern ein paar Jahre Zeit, um zu verschnaufen – bevor es mit den Schreiattacken in der Pubertät weitergeht. 

Dieser Text stammt aus „Das Kinderverstehbuch“ von Sandra Winkler. Eine Lektüre, die vielen Eltern Antworten auf viele Fragen gibt 🙂 Das Buch könnt Ihr HIER bestellen oder bei Eurem Buchhändler um die Ecke.

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Das Kinderverstehbuch

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1 comment

  1. Sehr gut und verständlich erklärt. Ich würde mir dennoch wünschen, dass stärker hervorgehoben wird, dass es eben nicht pauschal „Wut“ ist: Kinder (und Erwachsene) erleben eine ganze Palette von Gefühlen, die wir oft fälschlicherweise als Wut bezeichnen. Oft ist es vielmehr Traurigkeit, Enttäuschung, sehr oft sogar Angst (Mama geht raus, fremde Situation etc)! Manchmal reagieren wir sogar auf Beschämung oder Schuldgefühle so „bewegt“, dass es aussieht wie ein Wutanfall. Und doch ist es in erster Linie eine klassische Flucht-oder-Kampf-Reaktion mit natürlicher Aggression.
    Wenn wir verstehen, dass es nicht einfach ein Wutanfall ist, haben wir und unsere Kinder es leichter.

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