Küsse, Affären, sogar Beziehungen: Was, wenn in der Ehe alles erlaubt ist? Interview mit einem polyamoren Elternpaar

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Liebe Nadja, wer gehört alles zu Deiner Familie?

Zu meiner Familie gehören, mein Mann Joris (43), unsere Kinder Julius (13) und Lilli (11) und ich (37). Wir haben eine Zeitlang zusammen in Köln gelebt, sind dem Trubel aber vor ca. zehn Jahren entflohen und aufs Land gezogen.

Wie lange bist Du mit deinem Mann schon zusammen und wie würdest Du Eure Beziehung beschreiben?

Wir sind seit 14 Jahren ein Paar und seit zwölf Jahren verheiratet. In unserer Beziehung gab es viele Höhen und Tiefen, es gab viele Überraschungen und Unvorhergesehenes. Wir sahen unsere Beziehung schon scheitern und der Alltag ist manchmal echt zum Kotzen. Aber wir haben uns immer wieder berappelt und derzeit habe ich das Gefühl, dass es nichts gibt, was wir nicht bewältigen könnten. 

Wir leben absolut auf Augenhöhe und versuchen bei unterschiedlichen Meinungen zu wichtigen familienrelevanten oder beziehungsrelevanten Themen einen Konsens zu finden. Das klappt mal mehr mal weniger gut. Aber für die besondere Art unserer Beziehung bin ich sehr dankbar.

Seit zwei Jahren lebt Ihr polyamor – was genau bedeutet das?

Polyamor bedeutet für uns (das kann von Person zu Person in den Details unterschiedlich sein):  Jeder von uns kann sich mit anderen Menschen treffen, um mit ihnen einfach nur einen Kaffee zu trinken. Wenn aber mit einer anderen Person der Funke überspringt, ist es total okay, auch Zärtlichkeiten miteinander austauschen, lockere Affären zu haben oder eben auch eine längere Beziehung.

Dabei ist es auch nicht ausgeschlossen, dass man für eine andere Person romantische Gefühle entwickelt. Das Wichtigste aber, was Polyamorie ausmacht: Alle Beteiligten wissen darüber Bescheid und sind damit einverstanden, sich auf diese Lebensweise einzulassen. Das unterscheidet Polyamorie also vom "Fremdgehen." 

Von wem kam der Anstoß zu dieser Lebensweise und gab es einen "Auslöser" dafür?

Den Anstoß haben wir uns beide in den letzten Jahren immer mal wiedergegeben. Ganz am Anfang habe ich meinem Mann mal gesagt: "Bevor du heimlich fremdgehst, bring sie lieber mit nach Hause. Dann haben wir beide was davon." 

Der Gedanke, dass nur ein Mensch für alle Bedürfnisse zuständig sein soll und diese erfüllen kann, schien uns aber schon immer absurd. Ich kann und will nicht beste Freundin, Seelentrösterin, Partybegleitung, Bettgeschichte, Hobbybegleitung, Mutter der Kinder und liebende Ehefrau gleichzeitig sein. Das schaff ich nicht.

Viele Jahre brauchten die Kinder unsere volle Aufmerksamkeit und unsere Beziehung war auch nicht so stabil, dass wir sie hätten nach außen öffnen können. Wir waren uns nicht sicher, ob so eine Öffnung unsere Beziehung über kurz oder lang zerstören würde. 

Dann, als die Kinder größer waren, wir im Job angekommen waren und unsere Beziehung auf absoluter Liebe und Gewissheit basierte, passte es plötzlich. Wir waren uns einig, dass wir es versuchen wollten. Unsere Motivation war also nicht: "In der Beziehung läufts schlecht und so retten wir sie vielleicht." Im Gegenteil – unsere Beziehung lief so gut wie nie zuvor und deshalb waren wir bereit. 

Wie sieht das jetzt konkret gerade aus? Wer hat noch andere Partner? Und wann trefft Ihr sie?

Ich habe seit seit acht Monaten noch eine Partnerin an meiner Seite. Joris hat derzeit nur etwas lockeres, hatte aber in den letzten zwei Jahren auch zwei längere Beziehungen. 

Joris und ich haben die Hauptbeziehung und leben gemeinsam – für die anderen Partner bleibt also nicht so viel Zeit. Joris und ich treffen etwa ein bis zweimal pro Woche jemanden von außen, manchmal auch über Nacht. Meine Freundin kommt auch manchmal mit zu Ausflügen mit den Kindern. Wie was abläuft hängt ja auch immer von den Personen ab, die von außen dazu kommen. 

Wisst Ihr immer alles über die Treffen, also wann wer wen trifft und was passiert?

Wir wissen immer alles, um Spekulationen vorzubeugen, denn dadurch können auch durchaus blöde Gefühle oder Unsicherheiten entstehen. Allerdings hat niemand die Verpflichtung, Details zu erzählen. Es sei denn, der andere fragt. Dann bekommt er eine ehrliche Antwort.

Für mich ist es sehr hilfreich, wenn wir uns auch mal zu Dritt treffen – ob auf einen Kaffee oder auf einen Ausflug. So kann ich die Person, die mein Mann trifft, besser einschätzen und auch erkennen, welche Absichten und Erwartungen die andere Frau hat. Sie ist ja auch ein Teil aus dem Leben meines Mannes. Also interessiere ich mich für sie, weil ich mich für meinen Mann interessiere. 

Geheim bleibt bei uns nur wenig. Manchmal traut man sich vielleicht nicht, neue Gefühle anzusprechen, weil man noch nicht so geübt ist oder man nicht genau abschätzen kann, wie der Partner reagiert. Aber wenn man dann erstmal darüber gesprochen hat, merkt man, wie befreiend es ist. Auch, wenn der andere vielleicht überrascht, überrumpelt oder nicht so begeistert ist. So hat man wenigstens die Chance, darüber zu sprechen und im besten Fall eine Lösung zu finden.

Was findest du in der anderen Beziehung, was du bei deinem Mann nicht findest? Und wie ist das bei Deinem Mann?

Ich vermisse nichts. Es ist eine wundervolle Ergänzung, die ich nicht mehr missen möchte. Es macht mein/unser Leben runder und ich/wir fühlen uns freier. Ich würde eher etwas vermissen, wenn wir wieder zu einer monogamen Beziehungsform wechseln würden.

Ich/wir würden uns in unserer Freiheit eingeschränkt und in unseren persönlichen Entwicklungen aufgehalten fühlen. Die Beziehung zwischen mir und meinem Mann ist so sehr gewachsen. Es wäre für mich wie ein Korsett. Derzeit möchte ich nicht mehr zurück.

Ich freue mich, wenn mein Mann einen schönen Abend mit einer anderen Frau hatte und umgekehrt genau so. Man lernt neue interessante Menschen kennen. Das muss auch nicht immer intim werden. Man könnte jetzt meinen, dass ich im Rahmen der Polyamorie meine Bisexualität ausleben kann. Aber darum geht es nicht primär. Ich könnte mich auch in einen anderen Mann verlieben.

Für so eine Beziehungsform braucht man viel Vertrauen – was könntest du nicht verzeihen?

Ich könnte nicht verzeihen, wenn er mit den Gefühlen für andere Frauen hinterm Berg bleibt. Und mich dann von jetzt auf gleich verlässt, weil er glaubt, es kann nur noch die eine Beziehung geben. Oder wenn er ohne Kondom mit jemand anderem schläft. Das ist eine unserer Regeln.

Außerdem fänd ich es sehr verunsichernd, wenn er mir ein Date verheimlichen würde.

Und ja, Vertrauen ist das Wichtigste für so eine Beziehungsform. Wir können uns auf nichts anderes verlassen als auf das Wort des anderen. Aber derzeit habe ich das Gefühl, dass ich noch nie in meinem Leben ein so großes Vertrauen zu einer Person hatte. Wenn ich Unterstützung brauche, um mein Vertrauen zu bekräftigen, bekomme ich alles was ich brauche: Ich dürfte seine Chatverläufe sehen und ich kann die andere Frau jederzeit kennenlernen. 

Wir wurden öfter gefragt, ob wir nicht Angst hätten, dass uns der andere mal aufgrund einer anderen Person verlässt. Ganz ehrlich: Nein, das hab ich nicht. Und selbst wenn – das könnte auch in jeder anderen monogamen Beziehung passieren.

Wissen Eure Freunde/Eltern/Kinder Bescheid?

Unsere Familien wissen bisher nichts davon, weil es bisher noch keine außenstehende Person gegeben hat, die so tief in unsere Familienstrukturen eingedrungen ist. Sollte dieser Fall aber mal eintreten, müsste man zusammen darüber sprechen, wie ein solches Outing aussehen soll und welche Rolle die neue Person im gemeinsamen Leben hat.

Von unseren Freunden wissen fast alle darüber Bescheid. Allerdings war das auch nicht immer problemlos. Es gab Missverständnisse und Eifersucht seitens eines anderen Paares. 

Unsere Kinder wissen bisher nichts davon. Wenn jemand zu uns zu Besuch kommt, ist es einfach nur 'eine Freundin'. Aber wie gesagt, bisher gab es auch noch nie eine Person, die wirklich langfristig in die Beziehung kam. Warum wollten wir die Kinder also unnötig verunsichern. Allerdings sprechen wir oft mit den Kindern darüber, dass sich Menschen in jedes Geschlecht und auch in mehrere Menschen verlieben können. Würden die Kinder aber konrete Fragen stellen, bekämen sie auch ehrliche Antworten. 

Wir wissen, dass es sich widerspricht. Auf der einen Seite sind wir auf Offenheit und Ehrlichkeit angewiesen, damit eine solche Beziehungsform funktionieren kann. Auf der anderen Seite gehen wir, was dieses Thema betrifft  nicht ganz ehrlich mit unseren Kinder um. Aber noch überwiegt die Sorge was oder wie sie die  Information beeinflusst. Wir haben uns bereits viel mit anderen polyamoren Eltern unterhalten. Einige sind offen zu ihren Kindern, andere wiederum teilen ähnliche Sorgen. Das ist eine große elterliche Unsicherheit. Ganz im reinen sind wir da mit uns noch nicht.
Und deshalb bleibt es auch erstmal dabei. Wir werden es aber immer wieder neu zwischen uns besprechen.

Was sind die größten Vorurteile gegenüber polyamoren Paaren?

Dass sie nur in Swingerclubs gehen, dass sie mit allen immer nur Sex haben wollen. Dass es nur ein Versuch ist, die Beziehung zu retten, dass einer heimlich unglücklich ist.

Was wünscht Du dir für Dich und Eure Ehe?

Unsere Ehe war noch nie offener, gleichberechtigter, intensiver, ehrlicher und reflektierter. Wir haben in den letzten 14 Jahren nicht soviel miteinander gesprochen wie in den letzten zwei Jahren. Es hat uns nochmal viel näher zusammengebracht.

Ich wünsche mir für die Zukunft, dass wir weiter aneinander und miteinander wachsen können. Und vielleicht können wir unser kleines Familienkonstrukt um den ein oder anderen Menschen erweitern.

 

 

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8 comments

  1. Schade, dass der Menschheit die Toleranz und das moderne Menschenbild fehlt um für Alternative offen zu sein.
    Schade, dass toxische Mono-Normativität (Eifersucht, Besitzdenken, Selbstzweifel, Fremdgehen) höher bewertet wird als Offenheit, Ehrlichkeit, Frei-Willigkeit, Selbst-Bewusstsein und persönliches Glück. Eine besondere Form des Stockholmsyndroms, insbesondere für Frauen?
    Ich lebe in frei, auf Augenhöhe, emanzipiert, ausgehandelten Beziehungen, transparent, emotional, langfristig und verantwortungsbewusst.
    Die wahre Liebe, alles mit einer für immer, ist für mich nur eine von vielen nützlichen, überholten Lügen, wie der Weihnachtsmann und der Osterhase.
    Und Kinder mit „alternativlosen“ Wahrheiten zu konditionieren, ist ein Verbrechen wider die Menschlichkeit.

  2. Danke, dass mal die polyamore Lebensweise beleuchtet wird. Wie man an den Kommentaren sieht, können sich viele das nicht vorstellen (soll nicht wertend gemeint sein). Immernoch gehen ca. 50 % der Männer und Frauen ihrem Partner fremd, natürlich heimlich unter dem Deckel der hochgelobten Monogamie. Für mich ist klar: lieber unheimlich untreu als heimlich untreu. Das schafft mehr Vertrauen.

  3. Unvorstellbar für mich
    Diese Lebensform wäre unvorstellbar für mich. Ich habe von meiner Familie ein anderes Bild vorgelebt bekommen nachdem ich lebe und glücklich damit bin. Ich wüßte überhaupt nicht wie ich diese Form von Beziehung, wenn ich sie denn leben würde, meinen Eltern und meinem Kind erklären soll. Ich teile den Alltag und alles was dazu gehört mit meinem Mann, tausche mich mit Freunden und Familie aus, in guten und in schlechten Zeiten. Vielleicht bin ich altmodisch in meinem Gedankengut, aber was wird die nächste Form des Zusammenlebens zwischen Menschen sein?

  4. Danke Nadja für deinen
    Danke Nadja für deinen Einblick! Ich kann vieles nachvollziehen. Vor allem, dass man/frau in einer monogamen Beziehung nicht alle Bedürfnisse erfüllen kann. Ich verstehe auch, dass die Beziehung stabil und das Vertrauen groß sein muss und es eine Partnerschaft inniger machen kann. Ich finde es immer gut, auf sich als Person, Paar und Familie zu schauen, was für sich und dem System gut ist…und sich von den gängigen Bildern und Ansprüchen zu befreien …das erfordert aus meiner Sicht Mut, Experimentierfreude, Gleichberechtigung, Selbstbewusstsein und Vertrauen . Der Umgang mit Kindern finde ich dabei besonders wichtig und auf Ihre Bedürfnisse besonders zu achten.
    Für mich ist diese Lebensform gerade nicht aktuell aber ich würde aber nicht nie sagen.

  5. Ich schwanke da zwischen pro
    Ich schwanke da zwischen pro und contra, aber eigentlich finde ich die exklusive Paarbeziehung erstrebenswerter. Dass man eben einen Partner hat, mit dem man durch dick und dünn geht. Und damit klar kommt, dass bestimmte Dinge (wie der Kitzel der Verliebtheit oder Sex mit noch nicht so vertrauten Menschen) der Vergangenheit angehören. Es ist halt anstrengender, mit dem alten Partner solche Gefühle wieder zu erreichen. Aber ich denke, die Beziehung so nach außen zu öffnen birgt große Risiken. Und dass ihr es den Kindern nicht erzählt, spricht da ja für sich… Aber vielleicht kommt hier in dem konkreten Fall dazu, dass Nadja sich sexuell (auch) für Frauen interessiert und das sonst nicht ausleben könnte.

  6. Traurig
    Solche Berichte machen mich irgendwie immer traurig und lassen mich Menschen und Paare erstaunt und mit anderen Augen sehen. Dieses Modell wäre gar nichts für mich. Ich wäre nicht frei von Eifersucht. Ich bin dieser ganz oder garnicht Typ. Diese Art von Beziehung wäre mir zu larifari. Das soll nicht wertend sein. Aber diese lebensformen finde ich wie gesagt sehr traurig. Liebe Grüße

  7. Nichts für mich, aber…
    …trotzdem eine Lebensweise vor der ich Respekt habe. Man muss wirklich sehr tolerant und vorallem im Reinen mit sich selbst sein um dieses Modell leben zu können. Auch muss man dem Partner voll und ganz vertrauen um zu wissen, dass er trotzdem bleibt. Sehr interessant.

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