Ein paar Sommermonate in gewollter Obdachlosigkeit mit zwei Kleinkindern

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Ihr Lieben, immer wieder lassen wir hier Frauen – und manchmal auch Männer – zu Wort kommen, die aus ihrem Leben erzählen. Ja, auch von den verzweifelteren Phasen ihres Lebens – und wie sie wieder rausfanden. So erzählt heute Isabella ihre Geschichte.

Als die Zweifachmutter herausfand, dass ihre Beziehung nicht mehr funktioniert, verlor sie sich selbst. Und auch ein bisschen den Kontakt zu den Kindern. Sie wollte sich auf eine Reise zurück zu sich selbst machen – und setzte ihre Pläne durch.

Sie verkaufte alles, was sie besaß und tourte mit dem Geld aus dem Erlös zusammen mit ihren Kindern einen Sommer lang durch Deutschland. Die Kinder wuchsen in dieser Zeit als Schwestern stark zusammen, sie hatten – wie die Mama – Freude mit den vielen neuen Gesichtern, Wohnungen und Betten.

Immer kamen sie bei Freunden unter – auch am Bodensee und in Hamburg. Doch eine Stadt tat es ihnen besonders an. Und in diese sind sie nun auch gezogen…  hier wird Isabella im nächsten Jahr nochmal ein Studium beginnen…

Wie alles begann…

„Es ist Anfang Juli. In elf Tagen werde ich den Schlüssel meiner Mietwohnung abgeben und frei sein. Ich habe Elternzeit genommen, brauche eine Auszeit. Ich will danach nicht mehr in meinen Beruf zurückkehren.
Ich habe im OP gearbeitet, hab Menschen sterben sehen. Habe alles dafür getan, dass Schwerverletzte nicht sterben. Habe toten Menschen Organe entfernen lassen, habe aufgeregten Kranken gut zugesprochen.

Währenddessen habe ich meine Beziehung verloren. Die Beziehung zu dem Vater meiner Kinder, aber auch zu mir selbst – und zu den Kindern.

So konnte und sollte es nicht weitergehen.

"Ich wollte ein selbstbestimmteres Leben"

Ich habe beschlossen, dass es nun an der Zeit sei, ein selbstbestimmteres Leben zu führen. Eins, in dem ich aktiv mein Glück gestalte. Eins, das weniger von Kompromissen geprägt ist, in dem es mehr um die Bedürfnisse meiner Kinder und um meine Wünsche geht.

In letzter Zeit war ich sehr frustriert, traurig, wütend und gestresst. Ich rannte den Minuten hinterher, war ständig ungeduldig. Ich bekam Atemnot. Daraufhin kündigte ich die Wohnung, die Verträge mit den Kindergärten und beantragte Elternzeit.

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Da stehe ich jetzt, wenige Tage vor der gewollten Obdachlosigkeit. Ich habe schon fast alles verkauft und aussortiert. Ich habe Angst und Gelassenheit in mir. Ich bin ruhig und aufgeregt.

"Wir wollten die Geschichte unseres Lebens umschreiben"

Ich entscheide mich für eine andere Kindheit meiner Kinder. Ich möchte die Geschichte unseres Lebens so nicht weiterschreiben, ich möchte sie umschreiben.

Die Geschichte gefällt mir nicht mehr, sie ist schon viel zu lange viel zu traurig. Das ahnt keiner, denn ich lächele immer und habe für andere jederzeit ein paar lustige Worte auf Lager. Ist die Tür zu, sieht es ganz anders aus. Luftnot. Herzrasen. Ich kann nicht einschlafen.

Wir sind alles Kinder mit auferlegten Glaubenssätzen, unterdrückten Gefühlen und verletzten Bindungen. Wir sind das Ergebnis unserer Eltern und deren Eltern und deren Eltern.

Die eigene Kindheit war schwer

Traumata, Verlust, Gewalt – das alles wird so lange in uns wiedergeboren, bis einer es auflöst. Wenn ich meine Kinder möglichst wenig mit meinen unaufgearbeiteten Erfahrungen und Erlebnissen belasten möchte, dann muss ich jetzt etwas ändern. An mir, an meiner Situation, an meiner Art zu denken. Das spüre ich sehr deutlich.

Nimm deine Angst und mach Vertrauen draus. Nimm deine Trauer, und mach Frieden daraus. Das wird zu meinem Mantra.

Wahre Freiheit ist in unserem Inneren versteckt. Sie kommt nicht durch Reisen in ferne Länder oder materiellen Besitz. Sie benötigt Achtsamkeit, Bewusstsein und viel, viel Loslassen.

Loslassen erfordert Mut. Ob es nun der teure Fernseher ist oder eine schlimme Kindheitserinnerung, eine alte Freundschaft oder eine Vorstellung von Karriere – Loslassen erfordert Mut und Vertrauen.

Das alte Leben ließ Isabella hinter sich

Ich gebe alles auf, meinen Beruf, meine Wohnung, meine engen Freundschaften und möchte mich wiederfinden. Mich selbst wieder spüren, meine Gefühle und Beweggründe entdecken. Ich möchte wieder wissen wer ich bin, was ich will, was mich erfüllt. Ich möchte die Liebe des Lebens wieder spüren.

Seit vier Wochen bin ich gemeinsam mit meinen Kindern und meinem neuen Partner nun „obdachlos“, ohne Heimat, in die wir zurückkönnen. Mit Koffer und Rucksack auf Lebensreise. Unser erstes Ziel ist Leipzig. Dort lebt eine Freundin, bei der wir erstmal wohnen konnten. Obdachlos, das heißt bei uns nicht unter Brücken wohnend, sondern ohne festen Wohnsitz lebend. Sich treiben lassend.

Leipzig ist schön. In einer Aufbauphase. Von modernsten Bauten bis zu heruntergekommenen Gebäudekomplexen findet sich hier alles. Die Stadt ist mit fast 500.000 Einwohnern eine echte Großstadt. Kunst, Kultur, Kreativität und schräge Vögel finden sich dort problemlos. Das Spannende an Leipzig ist für mich eindeutig das Gegensätzliche. Von bewusst retro zu sehr modern.

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Nach wenigen Tagen treibt es uns weiter, nach Berlin. Dort lebt mein Bruder, in dessen Wohnung wir unterkommen, weil er im Urlaub ist. Berlin hat so bunte Menschen!

Wie wir uns in Berlin verliebten

Menschen interessieren mich schon immer sehr. Je schräger sie sind, desto mehr faszinieren sie ich. Was in Heidelberg als höchst mutige Mode gewertet werden würde, ist in Berlin schon wieder langweilig.
Menschen in allen Farben und Formen, Kleidung von rebellisch über chic zu punkigen Hippies und Männern, die zu ihrem Hüftschwung stehen. Berlin ist wie eine Modenschau.

Ein Mensch schöner als der andere, lauter körperliche Besonderheiten, keine Norm, alles schräg. Ich fühle mich plötzlich so unendlich wohl. Meine Kamera kann nicht mehr still an meiner Schulter hängen, sie will am liebsten jeden Einzelnen fotografieren.

Hier gehör ich hin, denke ich mir immer wieder. Hier bin ich richtig. Und obwohl mein Mutterherz mir ein schlechtes Gewissen macht, weiß ich, dass ich hier wohnen werde.

Nicht nur die Menschen faszinieren mich, sondern auch die unzähligen Geschäfts -und Selbstverwirklichungsideen. Hier gibt es nichts, was es nicht gibt – hier können alle etwas erreichen, nicht nur die akademischen Zielstreber.

Dann kommt mein Bruder aus dem Urlaub wieder und wir müssen weiterziehen. Ich habe mich schon immer gefragt, wie es wohl ist, am Meer zu leben.

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Also geht es nach Lübeck und von dort aus an den Timmendorfer Strand. Es ist warm und ich freue mich über das wohlige Gefühl, im Urlaub zu sein. Wir entscheiden spontan, die Nacht am Strand zu schlafen. Frei sein.

Oder wollen wir doch am Meer leben?

Immer mehr Urlauber machen sich auf den Weg zurück ins Hotel und wir beginnen, uns ein kleines Lager zu bauen. Ein gemieteter Strandkorb ist das Bett der Kinder, die warm in Decken gehüllt und mit Batterie betriebener Lichterkette mehr als zufrieden scheinen. Sie schlafen mit den Geräuschen des Meeres ein und ich staune über die robuste Abenteuerlust meiner Kinder.

Die Jüngste ist 2 Jahre alt, sie kam in meiner kleinen Dachgeschosswohnung zur Welt. Auf dem Boden unter dem Fenster, begrüßt durch herrliche Mai-Sonnenstrahlen. Die Beziehung zu dem Vater der Kinder war von Anfang an sehr turbulent. Ich gab mir große Mühe, um aus ihm einen Familienmenschen zu machen – und scheiterte kläglich.

Mein Wunsch nach einer intakten Familie war aber so groß, dass ich nicht aufgeben wollte. Ich wollte so sehr Teil einer liebevollen Familie sein. Meine Kinder sollten in einer gesellschaftlich anerkannten Familienkonstellation aufwachsen.

Warum ich nicht viel früher ging

Also hielt ich an der Beziehung fest, fühlte mich aber so alleine und emotional verlassen. Als unsere zweite Tochter sieben Monate alt war, zog er abends los und traf sich mit einer anderen Frau.

In den Tagen danach klingelte sein Handy ununterbrochen, ständig kamen Nachrichten. Mit schlimmstem Herzklopfen nahm ich es und las die Nachrichten. Das, was ich da las, raubte mir den Atem.

Ich hatte keine Kraft mehr, ich hatte keine Hoffnung mehr. Wenige Wochen später schmiss ich ihn raus. Ich versank wochenlang in einen Zustand des Schocks. Nichts, was ich tat, kann ich rückblickend verstehen.

Ich war wie in einer zweiten Pubertät. Mit dem Leben überfordert und niemandem an der Seite, der mich verstand. Ich rappelte mich hoch, arbeitete viel, kümmerte mich um andere – und verlor mich.

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Und dann dieser Abend am Meer, mit meinen großartigen Kindern und einem neuen Mann an meiner Seite. Ganz langsam kommt mein Atem zu mir zurück. Meine Augen sind wieder bereit, das Schöne zu erkennen. Es liegt noch ein Schleier auf ihnen, aber ich spüre, wie dieser nur noch an dünnen Fäden hängt.

Happy End: Wir sind angekommen!

Wir reisen den Sommer weiter und landen in Berlin. Zurück zu den bunten Vögeln, in deren Mitte ich mich so wohlfühle. Auch, wenn wir für unsere Reise nicht jahrelang unterwegs waren und nicht mal Deutschland verlassen haben – so hat es doch das Leben von vier Menschen komplett verändert – und ein Fünftes erzeugt…“

Mehr zur Familie auf Instagram: @familieinberlin

 

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3 comments

  1. Ich fühle mit beim Lesen,…gerade frisch den Traum „Familie“ zerplatzen sehen. Alles Gute weiterhin und bleib so mutig und lebendig 🙂

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