Gastbeitrag: Ich bin Mama und blind

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Ihr Lieben, immer wieder stoßen wir auf Eltern, die wir Euch unbedingt vorstellen wollen. Weil sie andere Ansätze haben, andere Probleme, andere Hausforderungen. Ziel dieses Blogs ist es ja auch, Euch die unterschiedlichsten Lebensmodelle vorzustellen und zu zeigen, dass es so viele tolle Mamas da draußen gibt. Eine von ihnen ist Birgit aus Kassel. Sie hat eine (mittlerweile fast erwachsene) Tochter und ist blind. Wie das damals, als ihre Tochter noch klein war, funktionierte, hat sie für den "Verein zur Förderung der Autonomie Behinderter" aufgeschrieben. Danke, dass wir die Beitrag auch veröffentlichen dürfen, liebe Birgit!

„Als blinde Mutter bin ich immer etwas Besonderes, eine Exotin. Die Palette der Reaktionen reicht von Unglaube, Bewunderung bis hin zu Vorwürfen, ”daß ich mir mit ‘diesem Schick­sal’ noch ein Kind zumute, daß ich ja gar  nicht für das Kind sorgen könne…” Ich habe eine fast zweijährige Tochter namens Hannah. Für mich und meinen Partner ist das Elternsein eine riesige Bereicherung. Das erste Jahr hatte ich Erziehungsurlaub, das zweite mein Mann. Er ist sehbehindert, sieht jedoch ausreichend, um Hannah auch außerhalb unseres Hauses im Auge zu be­halten bzw. ihr, wenn nötig, hinterherzurennen, was für mich nicht möglich ist.

Hören, Fühlen und Intuition

In Bezug auf meinen Alltag mit Hannah läuft manches anders als bei nichtbehinderten Müt­tern. So setze ich beispielsweise stärker andere Sinne, wie hören, fühlen, riechen, ein. Ich suche mit dem Finger Hannahs Mund, um sie zu füttern. Beim Wickeln fühle ich, ob ihr Po schon sauber ist. Wo sich Hannah gerade im Haus aufhält, höre ich meistens ziemlich schnell, weil sie normalerweise immer irgendein Geräusch macht. Über die üblichen Maßnahmen der Kindersicherheit in den eigenen vier Wänden hinaus, wie Kindersicherungen für Steckdosen und Schränke oder ein Herdgitter, müssen wir blinden Mütter im Ausfindigmachen und Aus­schalten von Gefahrenquellen besonders gründlich und erfinderisch sein.

Wenn sehende Mütter "kurz mal gucken, was das Kind gerade so treibt", setze ich eher mein Gehör ein oder fühle, was Hannah gerade in der Hand hat, wenn ich mir nicht sicher bin, ob sie vielleicht doch beispielsweise ein Messer vom Frühstückstisch ergattert hat. Dabei spielt auch die eigene Intuition eine wichtige Rolle. Letzteres ist jedoch nicht spezifisch für blinde Mütter. So kennen wir Mütter vermutlich alle die "verdächtigen" Momente, in denen unser Nachwuchs entweder auffällig ruhig ist oder sich über irgendetwas besonders freut, während wir gerade abgelenkt sind oder uns in einem anderen Zimmer befinden.

Eine andere Kommunikation zwischen Mutter und Kind

Da zwischen Hannah und mir der Blickkontakt natürlich wegfällt, sprachliche Kommunika­tion jetzt erst beginnt, haben wir andere Formen der Verständigung miteinander gefunden. Dabei finde ich es immer wieder erstaunlich, wie flexibel sich schon ein sehr kleines Kind, beispielsweise auf das Nichtsehen der Mutter, einstellen kann. Wenn Hannah mir ein Auto oder ihr neues Schmusetier zeigen möchte, gibt sie mir dies in die Hand. Wenn sie meine Aufmerksamkeit möchte, zupft sie auch schon ‘mal an meinem Ärmel. Oder sie nimmt mich an die Hand, wenn ich mit ihr in ein anderes Zimmer gehen soll. Falls ich noch nicht gemerkt habe, dass Hannahs Brot schon aufgegessen ist, und sie ein zweites möchte, macht sie auf sich aufmerksam, indem sie mit dem Frühstücksbrett klappert oder mir dieses in die Hand gibt. Mit meinem Mann macht Hannah viele Späße über Fratzenschneiden und ähnliches. Späße zwischen ihr und mir laufen eher über lustige Geräusche oder einen scheinbaren Kampf um ein Spielzeug oder eine Socke.

Spielereien

Auch im Bereich des Miteinanderspielens sind immer wieder Kreativität und Informationen über Hilfsmittel nötig. Hannah und ich rollen gerne einen Ball hin und her, der innen mit einer Klingel versehen ist, damit ich höre, wo dieser gerade hinrollt. So ein Klingelball ist bei Hilfsmittelstellen für blinde Menschen erhältlich. Dort bekomme ich auch unterschiedliche Spiele, beispielsweise “Mensch ärgere dich nicht”, “Domino” oder “UNO”, die durch Blin­denschrift und weitere Adaptierungen für uns zugänglich gemacht wurden. In Bezug auf Hannahs Aktivitäten im “architektonischen Bereich” kommt es mir nicht ungelegen, daß sie lieber mit Lego als mit Bauklötzen spielt. Im Gegensatz zu Legos, die besser halten, muß ich bei Bauklötzen mehr aufpassen, daß ich ihre Bauwerke nicht versehentlich zerstöre.

Für Hannah ist es ein besonderes Vergnügen, sich verfolgen zu lassen, was mit mir natürlich nur bei uns im Haus möglich ist. Da sie dabei immer laut lacht, weiß ich dann schon, wo sie hinrennt und kann hinterherspurten oder ihr beispielsweise von der anderen Seite des Tisches entgegenkommen.

Unterstützung von außen

Für den außerhäuslichen Bereich habe ich in meinem Erziehungsurlaub ca. vier Stunden pro Woche Assistenz gehabt. Dabei ging es vor allem um Begleitungen bei Einkäufen für‘s Kind oder bei Spaziergängen mit dem Kinderwagen. Spaziergänge waren für mich mit Tragetuch oder Rückentrage zwar auch ohne Unterstützung möglich, wurden jedoch mit Hannahs Ge­wichtszunahme immer anstrengender. Inzwischen laufe ich auch mit ihr an der Hand, was allerdings nur bei kurzen Strecken funktioniert, da sie irgendwann keine Lust mehr hat, weiterzulaufen.

Ich kann noch nicht mit Hannah allein auf einen Spielplatz oder auf unserer wenig befahrenen Straße spielen gehen, da sie zwar schnell laufen, aber noch keine Gefahren einschätzen kann. Deshalb ist momentan außerhalb des Hauses nur das Laufen an der Hand oder ihre Mitnahme in der Rückentrage möglich. Ansonsten muß sie die Welt draußen ersteinmal überwiegend mit ihrem Vater, uns Eltern gemeinsam oder mit mir und Assistenz oder Freund/innen, erkunden. Obwohl mir klar ist, daß hier Hannahs Sicherheit vorgeht, fällt es mir manchmal nicht leicht, diese Grenze für mich zu akzeptieren. In solchen Momenten tröste ich mich damit, daß die Situation wieder anders aussieht, wenn Hannah etwas älter ist. Vermutlich wird sie schon in etwa einem Jahr verstehen können, daß sie nicht einfach weglaufen kann oder warum es gefährlich ist, auf die Straße zu laufen.

„Mama, warum bist du blind?“

Die Kindergartenzeit hat vieles verändert. Ab diesem Zeitpunkt wurde meiner Tochter bewusst, dass ich „anders“ bin. Hannah begann zu fragen, warum ich blind bin bzw. warum „andere Mamas“ nicht blind sind. Sie erlebte auch, dass andere Kinder sie etwas über mein Blindsein gefragt haben, beispielsweise ob ich kochen kann. Ich habe Hannah versucht zu vermitteln, wenn ihr die „Fragerei“ zu viel wird, solle sie sagen, die Kinder könnten mich selbst fragen. Teilweise kann auch eine Einheit zum Thema „Blindheit“ in der Kindergartengruppe oder Schulklasse des eigenen Kindes hilfreich sein. So werden alle Fragen auf einmal beantwortet und das Kind ist den Fragen nicht mehr so ausgesetzt.

Austricksen

Mit zunehmenden Alter gibt es natürlich von Hannah Versuche, mich auszutricksen. Ich fände es sehr ungewöhnlich, wenn dies nicht passieren würde. Manchmal ist es auch ein Test, was ich mitbekomme und was nicht. Dabei war Hannah immer wieder erstaunt, beispielsweise als ich sagte: „Stell die Marmelade wieder hin!“ oder: „Ich habe gemerkt, dass du meinen Rucksack vom Haken genommen hast…“ Inzwischen weiß sie, dass ich vieles über das Hören mitkriege, manches natürlich auch nicht. Einerseits sage ich ihr dann zwar auch „Ich finde es nicht gut, das du manchmal ausnutzt, das ich nicht sehe!“. Anderseits kann es auch sehr effektiv sein, einfach „langweilig“ zu reagieren. Wenn ich mich besonders aufregen würde, wäre es spannender, mich auszutricksen. Und mit einem gewissen Maß von „Austricksen“ muss ich wohl leben. Kinder von sehenden Müttern haben auch so ihre Methoden…

Resumée

Ich finde, wir sind als Familie – bei der die Mutter blind ist, und der Vater so viel sieht, dass er noch Fahrradfahren kann – mit unserer Tochter Hannah ein ganz gut eingespieltes Team. Hannah weiß, wie eigentlich alle Kinder, was sie besser mit der Mama oder mit dem Papa tun kann. Auch das wir kein Auto haben, scheint sie übrigens ganz gut zu verkraften… Sie hat zwar mal gefragt, warum fast alle ein Auto haben und wir nicht, sie fährt aber ansonsten ganz gern mit Bus und Bahn. Wir merken immer wieder, dass sie es viel mehr als die „Autokinder“ gewöhnt ist, längere Wege selbst zu gehen, weil wir nicht jede noch so kurze Strecke mit dem Auto fahren. Ich möchte mit diesem Artikel andere Menschen mit Behinderung ermutigen, das „Wagnis Kind“ einzugehen. Für das Leben mit einem Kind oder mehreren Kindern ist nicht ausschlaggebend, ob Mutter oder Vater ein Handicap haben, sondern das sich ein gutes Verhältnis zwischen Eltern und Kind entwickeln kann. Für Einschränkungen aufgrund einer Behinderung eines oder beider Elternteile gibt es oft, wie oben beschrieben, Lösungen, wobei immer wieder unsere Kreativität gefragt ist. Dabei ist es mir wichtig, dass ich mich mit anderen blinden oder sehbehinderten Müttern oder Vätern austauschen kann!"

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