Stillen: Muttermilch als Zaubertrank! Aber bitte ohne Druck

Stillen

Foto: pixabay

Ihr Lieben, wir befinden uns mitten in der Weltstillwoche 2021 (vom 4.-10.10.). Aus diesem Anlass haben wir Christiane Stella Bongertz interviewt, deren Buch Stillen: So findest du gelassen deinen eigenen Weg kürzlich im Dorling Kindersley Verlag erschien. Mit ihrer Familie lebt sie in Schweden. Wir duzen uns, seit wir vor einigen Jahren parallel als freie Autorinnen für die Zeitschriften Eltern und Eltern family schrieben. Wir wissen nicht, ob oder wie lange ihr gestillt habt und das tut bei diesen spannenden Antworten auch wirklich nichts zur Sache. Denn es geht hier um das Phänomen Muttermilch – und was es alles kann und mit sich bringt.

Liebe Stella, du hast ein Buch über das Stillen geschrieben. Mal ganz plakativ gefragt, so, als hätte ich noch nie ein Kind gestillt: Man würde ja meinen, Muttermilch geben sei das Natürlichste der Welt. Das Intuitivste. Warum braucht es ein ganzes Buch zum Thema?

Weil Stillen leider nicht ganz so intuitiv ist wie man meinen sollte. Zwar ist uns Menschenmamas der Wille, uns liebevoll um unseren Nachwuchs zu kümmern, angeboren, aber ein Stillinstinkt, der uns genau zeigt, was wir im Detail am besten tun, damit das Stillen gut klappt, geht uns – anders als den meisten Tiermamas – ab. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wir Menschen schon immer in Gruppen leben und voneinander lernen: Neumütter werden traditionell von anderen Müttern unterstützt. So hat sich im Laufe der Jahrmillionen ein vielleicht irgendwann mal vorhandener Stillinstinkt verloren. Positiv betrachtet macht uns das als Spezies besonders anpassungsfähig.

Wir haben neulich zum ersten Mal davon gehört, dass Muttermilch sich voll ans Kind anpasst, dass sie sogar eine andere Zusammensetzung für Mädchen und Jungen hat. Kannst du das bestätigen?

Ja, Muttermilch ist total interaktiv. Wenn die Mutter gerade einen Infekt hat, bekommt das Baby automatisch schützende Immunglobuline und andere Substanzen über die Muttermilch, damit es nicht krank wird. Als ich zum Beispiel eine schwere Grippe hatte, habe ich meine Tochter weitergestillt – und sie ist nicht erkrankt, obwohl sie direkt neben mir schläft. Ist das Baby wiederum krank, bildet der mütterliche Organismus Immunstoffe, um das noch unfertige Immunsystem des Babys über die Milch zu unterstützen.

Es ist auch richtig, dass sich die Milch etwas anders zusammensetzt, je nachdem, ob die Mutter einen Jungen oder ein Mädchen stillt. Bei Jungs ist sie etwas reicher an Fett und Proteinen, also kalorienreicher, Mädchen bekommen dagegen mehr Milch. Warum das so ist, ist noch nicht ganz klar, möglicherweise, weil Jungs schon bei Geburt meist größer sind. Die grundsätzliche Zusammensetzung reifer Muttermilch, also das Verhältnis von Fetten, Kohlenhydraten, Proteinen und wichtigen weiteren Nährstoffen bleibt dagegen über lange Zeiträume recht stabil, um eine Versorgung des Kindes ohne Schwankungen zu gewährleisten. Erst wenn beim längeren Stillen die täglich konsumierte Menge stark sinkt, steigt der Proteingehalt an und der Laktosegehalt fällt, weil es das ist, was das größere Kind jetzt benötigt.

Richtig stillen
Foto: Johan Bävman

Als ich mein erstes Kind bekommen hatte, erzählte mir jede Krankenschwester in der Klinik etwas anders. Die eine meinte, ich solle das Kind dauernd wecken, die nächste, ich solle nicht im Liegen stillen, die andere verfrachtete mich in den Stillraum, in dem ich mich zwischen all den anderen Frauen total beobachtet und ja, ich geb´s zu, auch ein bisschen wie im Kuhstall fühlte, wie wir da so alle an diesen elektrischen Pumpen saßen. Mich überforderten die vielen verschiedenen Ansagen und meine Brustwarzen entzündeten sich. Erst zu Hause und in Ruhe spielten wir uns stilltechnisch ein, Für wie groß hältst du auch den psychischen Faktor in der Stillbeziehung zwischen Mutter und Kind?

Der ist enorm. Stress kann das Stillen sabotieren, weil das Stresshormon Cortisol der Gegenspieler des Hormons Oxytocins ist, das nicht nur die Bindung zuständig ist, sondern auch den Milchfluss anregt. Darum klappt das Stillen besonders gut in vertrauter Umgebung und wenn wir uns entspannen. Das schließt auch ein, ein bisschen gnädiger mit sich selbst zu sein: Junge Mütter setzen sich oft unter Druck, weil sie alles richtig machen wollen und fühlen sich schnell verunsichert und beobachtet, so wie du im Krankenhaus. Aber „alles richtig machen“ gibt’s nicht und ist auch nicht nötig, es gibt immer Spielraum. Allerdings: Das Kind zum Stillen zu wecken, falls die Stillpausen zu lang werden ist gerade am Anfang sinnvoll, damit der Milchfluss nicht versiegt und das Baby genügend Nahrung bekommt.

Stillen war in den 70er Jahren verpönt, viele Frauen gaben Fläschchen. Ein Trend. Heute wird das Stillen unglaublich dogmatisch besprochen, warum glaubst du, ist das so? Warum schwingt da so viel Druck und schlechtes Gewissen bei Müttern mit? 

Tja, warum? Ich glaube, der Anspruch, unbedingt stillen zu müssen, wird durch Mamaforen und soziale Medien verstärkt. Zwar ist es schön, sich austauschen zu können, aber es gibt leider diesen unseligen Trend zur Intoleranz und dem „einzig Wahren“. Das erzeugt enormen Druck, gerade, wenn man als Neumama noch sehr unsicher ist. Die Stillfrage ist aber wahrscheinlich schon immer Moden unterworfen gewesen, denn ein Baby zu ernähren funktioniert auch mit Milchersatz.

In früheren Jahrhunderten bekamen Babys dabei zum Teil sogar Biersuppe oder Zuckerwasser – dass das nicht gesund sein konnte, leuchtet ein. Heute ist die Ersatzmilch zum Glück am natürlichen Vorbild orientiert und hat eine sehr gute Qualität. Auch wenn hier die geniale Interaktivität der Muttermilch fehlt, muss kein Baby Mangel leiden, wenn es mit dem Stillen nicht klappt oder mal Ersatzmilch gegeben wird.

Auch die Bindung lässt sich beim Fläschchengeben gut aufbauen. Darum finde ich es grundfalsch, Stillen zum Dogma zu erheben. Klar, Muttermilch ist die optimale Babynahrung, aber im Leben läuft eben nicht immer alles optimal. Jede Mama sollte die Freiheit haben, hier den Weg zu finden, der am besten zu ihr, ihrem Baby und ihren Lebensumständen passt. Darum trägt mein Ratgeber auch den Untertitel „So findest du gelassen deinen eigenen Weg“.

Hältst du Muttermilch nach all deinen Recherchen für einen Zaubertrank?

O ja. Besonders fasziniert hat mich die Eigenschaft der Muttermilch, Krebszellen zu eliminieren. Dazu gibt es ganz spannende Forschung. Schwedische Forscher aus Lund – übrigens ganz bei mir in der Nähe – haben aus der Muttermlich einen Komplex aus Proteinen und Lipiden isoliert, der mehr als 40 verschiedene Krebszellen absterben lässt. Und eine junge Forscherin in Österreich, Dagmar Zweytick, hat ein Muttermilch-Protein so umgebaut, dass es sogar Metastasen und bisher sehr schwierig zu bekämpfende Krebsarten erkennen und bekämpfen kann, wie etwa das Glioblastom, ein bösartiger Hirntumor.

Was waren die überraschendsten und faszinierendsten Fakten, die dir im Schreiben dieses Buches begegneten?

Neben den krebsbekämpfenden Eigenschaften war es das Faktum, dass auch Frauen, die noch kein Kind geboren haben, in gewissem Umfang stillen können, wenn sie sich darauf vorbereiten. Das ist zum Beispiel für gleichgeschlechtliche Partnerschaften oder bei Adoptionen interessant. Sogar Papas können ausprobieren, wie sich Stillen so anfühlt, dabei helfen Utensilien wie das Brusternährungsset, bei dem ein Milchschlauch an die Brustwarze geklebt wird.

Wenn sie dranbleiben, können sie durch die Stimulation vielleicht sogar selbst ein wenig Milch produzieren. Es gibt mindestens einen Fall einer Transfrau, die mit entsprechender Vorbereitung – und medikamentöser Unterstützung – ihr adoptiertes Baby voll gestillt hat. Aber auch Omas oder Tanten, sogar jenseits der Wechseljahre, können den Milchfluss wieder oder auch zum ersten Mal in Gang bringen und vielleicht einspringen, wenn die Mutter krank wird und nicht stillen kann. Möchte man das tun, sollte man aber unbedingt eine Stillberaterin hinzuziehen, mit Anlegen und Losstillen ist es nicht getan.

Muttermilch
Stillen: So findest du gelassen deinen eigenen Weg

Es gibt sehr, sehr unterschiedliche Stillerfahrungen unter Frauen. Für einige ist es viel mehr als nur Nahrung. Es ist Liebe, Bindung. Etwas Großes… hast du da auch Erfahrungsberichte in deinem Buch?

Ja, klar. Das war mir wichtig, damit die Leserinnen und Leser sehen, dass man es ganz unterschiedlich machen kann und das absolut okay ist.

Für die anderen ist das Stillen vor allem eine Herausforderung. Wir zitieren einmal unsere Kollegin Sophie vom Blog kinderhaben, sie fragte neulich bei Instagram: Wer unter euch hat wegen anhaltender Schmerzen vorzeitig abgestillt? Oder habt ihr durchgehalten und dann ist es besser geworden? Ich bin traurig. Seit acht Wochen stille ich unter Schmerzen. Wir haben viel versucht, um das Problem zu lösen, aber es will und will einfach nicht richtig klappen. Täglich gehen die Gedanken durch meinen Kopf: halte ich noch durch oder stille ich ab? Ich sehne mich nach einem Leben ohne Schmerzen, endlich mal wieder. Ich habe große Angst vor der nächsten Brustentzündung. Gleichzeitig wünsche ich mir nichts mehr, als dass es doch noch schmerzfrei klappt. Habe keine Lust auf Fläschchen und den ganzen Stress. Weiß außerdem, wie gut die Muttermilch für mein Baby ist. Und trotzdem: mein Wohlbefinden, meine Gesundheit sollten mir mehr wert sein. Ich will mich nicht aufopfern, nicht permanent in meinen Körper hineinhorchen müssen – wird der Schmerz größer, kündigt sich die nächste Entzündung an? Das hier belastet mich nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Es ist einfach so so so schade. Ende der Woche habe ich noch mal eine Stillberatung. Vielleicht wird es eher eine Abstillberatung. Ein paar Tage gebe ich mir noch Zeit, darüber nachzudenken. Aber gerade wird der Wunsch nach einem schmerzfreien Leben immer stärker. Irgendwann ist auch mal gut. Oder…? Was rätst du ihr?

Sicher ist, dass Sophie etwas unternehmen muss, denn dieser anhaltende Stress beeinträchtigt nicht nur den Milchfluss, Wundheilung und Immunsystem, sondern er ist Gift für ihre Psyche. Das kann auch die Bindung zum Kind belasten. Darum ist es eine Superentscheidung, eine Stillberatung zu machen. Die Stillberaterin kann sich die Situation und die individuellen Lebensumstände anschauen und gucken, was es für Optionen gibt.

Es kann tatsächlich sein, dass in dieser Situation das Abstillen die beste Wahl ist – auch dem Baby ist nicht gedient, wenn es zwar Muttermilch bekommt, aber seine Mama darüber depressiv wird. Wenn der Wunsch zu stillen nach wie vor groß ist, ist es aber auch gut möglich, dass eine vorübergehende Stillpause den Impuls zur Besserung gibt. Oder Zwiemilch, also die Kombination von industriell hergestellter Milch mit dem Stillen beziehungsweise Abpumpen. Dann kann zum Beispiel der Papa mithelfen, den Druck rauszunehmen. Den Milchfluss kann man anschließend mit etwas Geduld wieder anregen. Auch hier wäre unbedingt eine Stillberatung zu empfehlen.

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4 comments

  1. Für mich war übergangsweise Schmerzmittel nehmen die rettende Option. Ich wollte unbedingt stillen, da ich mein Leben lang eine recht starke Neurodermitis hatte und Kuhmilchunverträglichkeiten bei mehrere. Familienmitgliedern bestehen. Leider waren meine Brustwarzen am Anfang so rissig, das alles nur noch weh tat und ich jedes Mal nur noch schreien wollte. Die Schmerzmittel haben verhindert, dass mein Kopf das Stillen nur noch mit Angst und Schmerzen verknüpft hat, der Druck wurde rausgenommen und alles konnte sich einpendeln. Dadurch hatte ich 10 Monate lang eine schöne Stillbeziehung, bis ich mich zu ausgelaugt fühlte und auf feste Nahrung ergänzt durch Fläschen umgestellt habe. Inzwischen geht das Baby von damals in den Kindergarten. Die Schmerzmittel haben ihm augenscheinlich nicht geschadet.

  2. Mir ging es ähnlich wie Annemarie. Beim ersten Kind ein sehr starker Wille zu Stillen (und sehr viel Druck aus meinem Umfeld&Fremden à la „Stillen ist das Allerbeste“). Meine Brust war so kaputt, weder Stillberaterin, noch Hebamme wussten mehr Rat als Abpumpen, damit die Brust heilen kann. Mehr als zwei Monate habe ich immer wieder versucht „normal“ zu Stillen. Keine Chance. So hing ich 5 Monate an der elektrischen Pumpe, weil ich mich so schlecht gefühlt habe, meinem Kind keine Muttermilch geben zu können. Die Zeit war die schlimmste in meinem Leben. Ich war abhängig von einer Maschine. Im Nachhinein denke ich, ich hatte eine leichte Depression.
    Vor der zweiten Geburt habe ich mich belesen und informiert was es nur gab, damit ich dieses Mal „richtig“ stillen kann. Im KKH alle Hilfsmittel genutzt, die sie hatten und jegliche Stillberatung in Anspruch genommen. Nach drei Tagen sah die Brust so aus wie Kind 1 und alle waren ratlos. Mir wurde empfohlen zu pumpen. Dieses Mal hatte ich mit meinem Mann vereinbart, dass er mir mitten im Hormonchaos sagt, dass Abstillen völlig ok ist. Und das tat ich dann auch (schweren Herzens). ABER dieses Mal war die erste Zeit mit Baby geprägt von Freude&Kuscheln mit Flasche und nicht mit Tränen, Schmerzen und Pumpe.

    Auch Abstillen ist eine echte Option. Stillen muss für Baby UND Mama das beste sein.

  3. Danke für den Bericht, und vor allem auch für die Schilderungen zu Thema Abstillen. So schön das Stillen sein kann, so stark kann auch der Druck werden, der durch den Wunsch danach entsteht.
    Selbstverständlich wollte ich unseren ersten Sohn stillen. Die Bilanz nach 10 Wochen war aber ernüchternd. Ein Schreikind, das im besten Fall auf mir schlief, viel zu viel Milch, 3 Brustentzündungen inkl 12 Tagen KH, Schmerzen, Quarkwickel, Salbeitee, Kühlen, Wärmen, Ausstreichen, Hömeopartie, Stillberatung, Schreiambulanz. Und vor allem, viele gute Ratschläge nach dem Motto ‚du schaffst das, wenn es sich erstmal eingespielt hat… ‚. Ich hätte es anderes gebraucht. Niemand hat mir das Angebot gemacht, abzustillen. Nach 4 Monaten habe ich die Tablette in der Notaufnahme bekommen. Ich werde nie das Gefühl vergessen, wie mein Sohn das erstmal schmerzfrei auf meiner Brust lag und ich mir keine Sorgen mehr um Brustentzündungen machen musste. Mein Sohn konnte am Fläschen einschlafen, ohne dass ich ihn danach zum Ausstreichen und Kühlen ablegen musste.
    Eine mittelschwere Depression hatte ich trotzdem davongetragen.
    Unsere zweiter Sohn kam erst 5 Jahre später zur Welt. Ich habe das Stillen abermals probiert, mit psychologischer Begleitung und der Abmachung, dass wir Schlss machen, sobald es mir schlechter geht. Besser hat es nicht geklappt, obwohl er wenig schrie und besser schlief. Nach 8 Wochen und zwei Entzündung war Schulss. Eine schöne Erinnerung ist diesmal trotzdem geblieben.
    Ich wünsche euch allen von Herzen, dass ihr den richtigen Weg für euch und eure Familie findet, alles Gute euch!

    1. Ganz so krass war es bei mir nicht… Aber bei mir war auch das Hauptproblem: Unfassbar viel Milch, kombiniert mit schlechtem Milchfluss und wunden Brustwarzen.

      Ich habe vor Schmerzen geweint, wenn ich mich nachts drehen wollte. Und dann Brustentzündung, Milchstau und Milch, Milch, Milch ohne Ende…

      ALLE, wirklich ALLE Tricks zur Milchreduktion und Vermeidung von Status durch – eine Hebamme, zwei Stillberaterinnen, eine Frauenärztin – acht Wochen lang – irgendwann echt nur noch mit ihrem Latein am Ende – und ich ein totales Wrack.

      Der rettende Tipp war: Abstilltabletten!
      Und zwar zermörsert, über den Tag verteilt immer mal eine Prise auf die Zunge.

      Siehe da: Die Milch wurde weniger, der Druck ging weg, die Knoten lösten sich, der Schmerz ließ nach… die Milch konnte endlich, endlich fließen!

      Vielleicht hilft dieser Tipp anderen geplagten Mamas weiter 🙂

      Habe beide Kinder 15 Monate gestillt, bis sie selbst nicht mehr so richtig Interesse hatten und wir uns friedlich, fröhlich und einvernehmlich vom Stillen verabschieden konnten.

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