Unser Sohn starb an einer Neurodegenerativen Stoffwechselerkrankung

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Liebe Miriam, dein Sohn hatte eine neurodegenerative Stoffwechselerkrankung, Stück für Stück verlor er alle Fähigkeiten: sprechen, laufen, schlucken – das alles bei vollem Bewusstsein. Wann habt ihr zum ersten Mal bemerkt: Irgendwas stimmt da nicht?

Um seinen vierten Geburtstag herum begann er, sich merkwürdig zu benehmen. Er nahm alles Mögliche in den Mund und es drang gar nicht zu ihm durch, wenn man ihm erklärte, dass das nicht in Ordnung ist. Außerdem wirkte er stiller, sprach weniger und war gleichzeitig manchmal so unruhig. Allerdings gab es zu der gleichen Zeit in seinem Kindergarten einen ganz großen Personalengpass, die Kinder wurden nur beaufsichtigt – wenn überhaupt. Sein verändertes Verhalten führten wir also darauf zurück, dass er sich im Kindergarten unwohl fühlt und haben uns um einen anderen Platz gekümmert.

Ein komisches Gefühl blieb dennoch. Im neuen Kindergarten wurde es auch nicht besser und eines Tages suchte er nach Worten, um mir etwas zu erzählen und fand sie nicht. Abends saß er in seinem Bett, klopfte auf seinen Kopf und sagte: mein dummer Kopf, mein dummer, dummer Kopf! Und wirkte so unglücklich.

Dann wussten wir, dass wir schnell Hilfe brauchten. Unsere Kinderärztin hat uns zu einem Neuropädiater geschickt und nach einer Woche im Krankenhaus mit vielen Untersuchungen hatten wir die Diagnose. Wegen der diffusen Symptome hatten wir großes Glück, dass man uns so schnell überall ernst genommen hat.

Wie hast du dich nach der Diagnose gefühlt?  

Es war natürlich ein riesengroßer Schock. Ich erinnere mich noch genau, dass der Neuropädiater sehr behutsam versuchte, uns die Diagnose und die schlimme Prognose zu erklären. Unsere Tochter war dabei und sang währenddessen Sankt-Martins-Lieder – das war vollkommen surreal und es ist eine Welt zusammengebrochen. Natürlich wissen wir alle, dass es schlimme und tödliche Krankheiten gibt, aber irgendwie nimmt man ja auch immer für sich unterbewusst in Anspruch, dass es einen nicht selber trifft. Und auf einmal waren wir eine Familie mit dem todkranken Kind.

Aber die Diagnose war auch ein Stück weit eine Erleichterung, wir wussten endlich was los war, die Sache hatte nun einen Namen und wir konnten wieder handeln.

Ihr hattet dann noch ein Jahr zusammen. Bitte erzähl uns von dieser Zeit.

Wir wollten die letzte Zeit, die uns zu viert blieb, so gut es geht genießen und haben versucht, den Kindern ein möglichst normales Leben zu ermöglichen – mit Kindergarten und Krippe, Urlaub, Freunde treffen und Ausflügen.

Deswegen waren wir sehr froh von einem ambulanten Kinderpalliativteam unterstützt zu werden. So konnte fast alles an notwendiger medizinischer Betreuung zu Hause stattfinden und wir haben auch psychologische Unterstützung bekommen, die sehr wertvoll war.

Aber es gab auch viele Kämpfe – zum Beispiel mit Behörden, Versicherungen. Es war manchmal wirklich absurd, zum Beispiel wurde ihm kein Rollstuhl bewilligt, obwohl er nicht laufen konnte. Ich habe dann irgendwann nochmal Elternzeit genommen und nur noch wenige Stunden von zu Hause gearbeitet. So hatte ich mehr Zeit für all das Organisatorische und auch für die immer umfangreichere Pflege unseres Sohnes. Außerdem haben wir dann noch Unterstützung durch einen Pflegedienst bekommen, die mich abends beim ins Bett bringen der Kinder unterstützt haben.

Wie verlief der Abschied von eurem Sohn?

Auch hier hat das Kinderpalliativteam sehr geholfen. Irgendwann haben wir gemerkt, dass unser Sohn seine Lebensfreude, die er trotz aller Einschränkungen noch hatte, verlor und uns war klar dass das bedeutet, dass die letzte Etappe bevorsteht. Wir wollten gerne, dass er zu Hause sterben kann in seiner gewohnten Umgebung und das hat dann auch geklappt.

Es war ein eisiger Wintertag und in dem Moment, in dem er starb kam die Sonne heraus und schien in sein Zimmer. Das war tröstlich. Wir durften ihn dann noch einen Tag bei uns behalten, was besonders für unsere Tochter wichtig war. Sie konnte fühlen, dass ihr Bruder kalt wurde, nicht mehr atmete und auch dass das Herz nicht mehr schlug. Als schließlich die Bestatter kamen um ihn abzuholen, waren wir auch dazu bereit.

Wir haben dann noch seinen Sarg bemalt- eigentlich dachten wir, es sei wichtig für unsere Tochter. Aber für meinen Mann und mich war es total wichtig, so etwas Praktisches tun zu können. Der Leichnam unseres Sohnes war im Nebenraum aufgebahrt und auch es war schön, so noch einmal Abschied nehmen zu können.

Hat euch die Trauer zusammengeschweißt?

Unterm Strich hat uns das alles zusammengeschweißt. Aber es gab auch schwierige Phasen. Da war die psychologische Begleitung sehr wertvoll. Aber wenn es drauf ankam, waren wir immer einer Meinung und haben alle Entscheidungen gemeinsam getroffen und getragen.

Habt Ihr unterschiedlich getrauert?

Unsere Trauer war auf jeden Fall unterschiedlich: ich war unendlich müde, wollte mich aber so gut wie möglich um unsere Tochter kümmern, damit sie möglichst unbeschadet daraus hervorgeht.

Mein Mann hat angefangen ein großes Bauprojekt an unserem Haus umzusetzen und mit einem Bagger selbst unsere Garage abgerissen. Wir haben das besprochen, ich habe gesagt „Du kannst das jetzt machen, wenn dir das hilft, ich kann das jetzt gerade nicht“ und das hat sehr gut funktioniert.

Später haben wir dann noch eine Reha für verwaiste Familien gemacht. In erster Linie sind wir darauf gekommen, weil unsere Tochter immer gesagt hat, sie möchte Kinder treffen, die etwas Ähnliches wie sie erlebt haben. Das hat auch nochmal sehr gutgetan.

Eure Tochter hat das alles ja mitbekommen. Wie ist sie damit umgegangen und wie geht es ihr heute?

Sie und ihr Bruder hatten eine sehr enge Verbindung und so schmerzte sie der Verlust auch sehr, tut es bis heute. Sie war gerade drei als ihr Bruder starb und kann sich an vieles nur vage erinnern, das macht sie manchmal traurig. Wir haben viele Fotos und Videos gemacht aus der gemeinsamen Zeit, das schaut sie sich gerne an.

Wir sind immer mit allem sehr offen umgegangen, kindgerecht natürlich, aber es gab keine Geheimnisse oder Tabus. So ist ihr noch so viel Unbeschwertheit wie möglich geblieben. Ansonsten ist ihr Bruder immer präsent in unserem Leben, ganz selbstverständlich.

Wisst ihr, ob sie auch von der Krankheit betroffen ist?

Nein, das wissen wir nicht und möchten das mit ihr gemeinsam entscheiden, ob sie es wissen möchte oder nicht. Es gibt ja auch ein Recht auf Nichtwissen… Mädchen können die Krankheit in sich tragen und ggfs. weitergeben, eventuell auch an einer leichten Form erkranken, aber nicht daran sterben.

Du bist selbst Trägerin des Gens, wie und wann hast du das erfahren?

Als wir von der Erkrankung unseres Sohnes erfahren haben, habe ich mich testen lassen, weil wir uns noch weitere Kinder gewünscht hatten.

Ihr habt dann noch einmal ein Baby bekommen…

Ja, und wir haben sehr gehofft, dass es ein Mädchen ist. Einfach, weil die Krankheit bei Jungs viel schlimmer ablaufen kann. Ich habe aber recht schnell gespürt, dass es ein Junge ist. Wir haben daraufhin einen Gentest machen lassen.

Wie war eure Reaktion, als ihr erfuhrt, dass der Kleine das Gen nicht in sich trägt?

Unendliche Erleichterung! Erst dann haben wir richtig gespürt, wie groß die Anspannung bis dahin war. Wir haben unserer Tochter auch erst dann erzählt, dass sie einen kleinen Bruder bekommt.

Wie geht es euch allen heute?

Gut! Wir genießen unser Leben als kleine Familie. Die Lücke, die unser Sohn hinterlassen hat, bleibt und manchmal tut es auch weh, den Kleinen anzuschauen und an den Großen zu denken. Die Trauer gehört zu unserem Leben- aber sie hindert uns nicht daran, das Leben zu genießen und glücklich zu sein.

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2 comments

  1. Hut ab davor, wie die Familie mit der Erkrankung und dem Sterben des Sohnes umgegangen ist. Mir tut es immer sehr weh, solche Berichte zu hören oder zu lesen, und ich wünsche der Familie von Herzen alles Gute.

  2. Danke für das Teilen eurer Geschichte. Das Leben kann so grausame Seiten aufschlagen, was mich immer wieder fassungslos macht. Wir selbst haben unsere eigene Geschichte, eine ganz andere als eure. Ich wünsche euch Kraft und Licht.

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